Wir
alle sind ein offenes Buch
Ein Beitrag zur zwischenmenschlichen
Kommunikation
Seit Schulz von Thuns
Erörterungen zur zwischenmenschlichen Kommunikation wird im Anschluss an Paul
Watzlawicks Untersuchungen „Menschliche Kommunikation“ und Karl Bühlers „Das
Organon Modell der Sprache“ dem Umstand Rechnung getragen, dass Nachrichten
grundsätzlich auf vier verschiedenen Ebenen gesendet und empfangen werden.
Hierzu zählen die Inhaltsseite, die Beziehungsseite, die Seite der
Selbstoffenbarung sowie der Appell. Missverständnisse erklärt Schulz von Thun
damit, dass der Sender auf einer anderen Ebene kommuniziert, als der Empfänger
die Nachricht entschlüsselt. Betritt zum Beispiel ein Lehrer das Klassenzimmer
mit den Worten „Hier ist aber wieder eine Stinkluft“, können die Schüler auf
der Sachebene reagieren und ein Fenster öffnen. Reagieren sie demgegenüber auf
der Beziehungsebene, begegnen sie dem Lehrer mit den Worten: „Sie haben heute
wieder einmal schlechte Laune.“ - Schulz von Thun erkannte also, dass eine
Nachricht ein komplexes und vielfältiges Gebilde darstellt und immer mehrere
Botschaften gleichzeitig enthält. Dies ist eine Grundtatsache
zwischenmenschlicher Kommunikation, die wir nicht ausblenden dürfen, wenn wir
verstehen wollen, wie wir miteinander umgehen.
Nach der Theorie von Schulz von Thun lässt
sich eine Nachricht in vier verschiedene Aspekte oder Botschaften einteilen.
Das bedeutet, dass auf vier verschiedenen Ebenen gesendet als auch empfangen
wird. Daher sollte unschwer zu verstehen sein, weshalb es bei der
zwischenmenschlichen Kommunikation so häufig zu Missverständnissen kommt. Der
Sender kommuniziert auf einer anderen Ebene, als der Empfänger empfängt.
Gesetzt den Fall, eine Schülerin sagt zum Deutschlehrer, um ihre schlechte
Aufsatznote zu kommentieren: „Ich weiss
schon, warum ich eine schlechte Note erhalte, Sie mögen mich eben nicht“, verlagert
sie das Problem des schlecht verfassten Aufsatzes auf die Beziehungsebene, da
sie sich nicht mit der Sachebene auseinandersetzen will. Sie verwechselt somit
den Inhaltsaspekt mit dem Beziehungsaspekt.
Um die vier verschiedenen Botschaften
Inhalt, Beziehung, Selbstoffenbarung und Appell der menschlichen Kommunikation
zu verdeutlichen, betrachten wir zusätzlich einen andern Fall. Ein Mathematiklehrer
trifft zum Beispiel einen seiner Schüler, als der Unterricht schon begonnen
hat, im Schulhausflur. Streng sagt der Lehrer zum Schüler: „Sie haben doch
jetzt Physik.“ Der Schüler reagiert gereizt und antwortet: “Sie spionieren mir
also nach?“
Betrachten wir zunächst die Nachricht
ausschliesslich von der Seite des Lehrers. Auf der Sachebene übermittelt der
Lehrer die Botschaft, dass der Schüler nicht in der Physik, folglich woanders,
ist. Da der Lehrer seine Aussage in einem strengen Tonfall ausspricht, kann man
davon ausgehen, dass er nicht aus Interesse fragt, sondern zu Kontrollzwecken.
Der Selbstoffenbarungsaspekt dieser Nachricht lautet somit „Ich kontrolliere
Sie!“ Auch durch den strengen Tonfall kann man auf den Beziehungsaspekt
schliessen. Der Lehrer vermutet wahrscheinlich, dass der Schüler die Schule
schwänzen will. In seiner Nachricht teilt der Lehrer dem Schüler mit, dass er
verdächtigt wird. Natürlich will der Lehrer, dass der Schüler dies zugibt und
die Physikstunde besucht. Die Appellseite dieser Nachricht lautet also „Geben
Sie es zu!“ und „Gehen Sie in die Physik!“ Durch die Antwort vom Schüler können
wir versuchen, auf die empfangene Nachricht zu schliessen. Den Sachinhalt wird
der Schüler kaum falsch verstanden haben. Er empfängt auf der Sachebene
dasselbe, wie der Lehrer gesendet hat, nämlich „Ich bin nicht in der Physik.“
Da der Schüler der Meinung ist, dass dies den Mathematiklehrer nichts angeht,
versteht er auf dem Selbstoffenbarungsaspekt „Der Lehrer denkt, er könne sich
in alles einmischen.“ Auf der Beziehungsseite versteht er – begünstigt durch
den strengen Tonfall -, dass der Lehrer ihn verdächtigt. Folglich versteht er: „Sie
stehen unter Verdacht.“ Auf der Appellseite versteht er dasselbe, so wie es der
Lehrer mitteilen wollte, nämlich „Geben Sie es zu!“ Da der Schüler die freie
Wahl hat, auf welchem Ohr er besonders gut hinhört und er nicht auf den
Sachverhalt oder den Appell eingehen will, argumentiert er auf der
Beziehungsseite und antwortet: „Sie spionieren mir also nach!?“ Möglich, dass sich so besser verstehen
lässt, warum wir mit vier Zungen sprechen und mit vier Ohren hören, wobei immer
alle vier Aspekte der Kommunikation gegeben sind, in der Regel jedoch eine
Dimension im Vordergrund steht. Erklärt der Mathematiklehrer die
quadratische Gleichung, steht wohl die Sachebene im Zentrum. Fragt eine
Schülerin ihren neuen Schulfreund: „Liebst du mich noch?“, wird der junge Mann
kaum mit der Antwort aufwarten: „Ja, da müssten wir zuerst einmal definieren,
was überhaupt unter Liebe zu verstehen ist“; schliesslich zielt die Frage auf
den Beziehungsaspekt und nicht auf die Inhaltsseite. Der junge Mann wird wohl
eher auf die Selbstoffenbarungsseite der Schülerin reagieren und mit „Ja
sicher“ oder mit „Ganz bestimmt“ antworten.
Betritt dagegen eine Lehrperson das
Zimmer einer lauten Klasse mit den Worten „Mehr Lärm!“, erhofft sie sich durch
den paradoxen Satz die Klasse zu beruhigen, was funktionieren kann, sofern sie
selbstbewusst genug auftritt und so zum Ausdruck bringt, wer Herr im Hause ist.
Letzteres ist also nur dann möglich, wenn nonverbale und verbale Äusserung
gewissermassen kongruent sind. Nicht kongruent sind sie freilich, wenn ein
Lehrer nach der Lektion auf die Frage eines Schülers nach einer unverstandenen
Aufgabe mit den Worten antwortet: „Sie wissen, für meine Schüler habe ich immer
Zeit“ und dabei gleichzeitig die Mappe packt. Noch deutlicher wird das
Autoritätsgefälle zwischen Schüler und Lehrer, wenn dieser beim Referat eines
Schülers sich demonstrativ nach hinten begibt und anfängt, den Kasten mit dem
Schulmaterial ein- oder auszuräumen. Die Lehrerhandlung ist umso schändlicher,
als sie nonverbal ausfällt, zumal das Nonverbale älter ist als das Verbale und
daher auch prägnanter und definitiver vom Kommunikationspartner aufgefasst
wird. Hier von Mobbing zu sprechen, ist mit Sicherheit nicht falsch.
Auch wenn der Begriff „Mobbing“ in aktueller Zeit immer
präsenter und auch bekannter wird, eine einheitliche Definition gibt es nicht.
Ursprünglich wurde der Begriff von Konrad Lorenz geprägt, der damit die
Verhaltensweise von Tieren in solchen Situationen beschrieb, wenn mehrere von
ihnen gemeinsam auf ein anderes Tier losgehen – mit dem Unterschied, dass es
sich in der Tierwelt hauptsächlich um Verteidigungssituationen gegen
Fressfeinde handelt. Als später klar wurde, dass das Phänomen
„mehrere gegen einen“ auch beim Menschen zu beobachten ist, fand der Begriff
Einzug in die moderne Sozialforschung. Für den Menschen war und ist der
Hauptbereich, in dem Mobbing thematisiert wird, die Arbeitswelt oder, wenn Jugendliche betroffen sind, die Schule. Allgemein lässt sich sagen,
dass unter Mobbing (im Englischen und der entsprechenden Fachliteratur wird der
Begriff „bullying“ gebraucht) zu verstehen ist, wenn mehrere Personen gegen
eine andere Person vorgehen, sie zum Beispiel diskriminieren, schikanieren oder ganz einfach schlecht behandeln.
Gemäss einer Studie der deutschen
Bundesregierung erfolgt Mobbing oft unter Kollegen bzw. Gleichgestellten
(also „peers“), aber in fast 50 Prozent der Fälle sind auch Vorgesetzte
beteiligt. Man geht davon aus, dass das Phänomen Mobbing nicht hauptsächlich in
den Persönlichkeitszügen der Beteiligten begründet ist, sondern vielmehr auch
durch organisationsinterne Faktoren begünstigt wird. Beispielsweise führt
Überlastung oder Überforderung am Arbeitsplatz zu Stress, welcher sich wiederum
in Form von Mobbing äussern kann. Wichtig ist, dass Betroffene nicht dem
Irrglauben verfallen, sie selbst und ihre Persönlichkeit seien allein für das
Mobbing verantwortlich. Ein Satz wie „Du bist ein schwatzhafter, liederlicher
Schüler“ ist sicher grenzwertig und wird in den meisten Fällen auch nur dann
geäussert, wenn der Lehrer einen Schüler treffen oder verletzen will. Von der
Sache her gibt er ihm zu verstehen: „Du bist nicht einfach.“ Die Selbstoffenbarung
lautet: „Mich stört deine Art.“ Hinsichtlich der Beziehung lässt der Lehrer den
Schüler wissen, dass er die Beziehung dominiert, zumal die Äusserung nicht
reziprok aufzufassen ist, da der Schüler nicht in dieser Form mit dem Lehrer
sprechen kann. Neben dem Herrschaftsanspruch des Lehrers gibt der Satz auf der
Appellseite dem Schüler die folgenden Imperative zu verstehen: „Nimm dich
zusammen! Gib dir mehr Mühe! Du lässt dich gehen!“ Umgekehrt decodiert der
Schüler den Satz auf der Inhaltseite mit: „Ich bin kompliziert“, auf der Seite
der Selbstoffenbarung „Der Lehrer stört sich an mir.“ - „Ich gehe ihm auf die
Nerven“ oder „So können wir nicht weiterfahren“ wird in etwa der
Beziehungsaspekt aus Sicht des Schülers ausfallen. Die Ebene des Appells, die
in diesem Fall wohl im Vordergrund steht, wird für den Schüler heissen: „Ich
muss mich ändern!“
Nicht minder problematisch und
konfliktträchtig sind gewisse Kommunikationsstrukturen zwischen Lehrpersonen
und Schulleitungen. Vor allem lässt sich diesbezüglich das folgende Faktum
herausschälen: Die unverhohlene oder
verhohlene Bevorzugung der EINEN ist die unverhohlene oder verhohlene
Herabsetzung der ANDERN. Ein klarer Fall von Mobbing,
auch wenn nicht alle Beteiligten sich des Sachverhalts bewusst sind. Sowenig
wie Lehrpersonen Schülerinnen und Schüler bevorzugen dürfen, sowenig können
Schulleitungen sich mit einigen handverlesenen Günstlingen umgeben. Im einen
wie im andern Fall wird ein solches Verhalten von Lehrpersonen oder Schülern
als unfair und parteiisch abqualifiziert. Man fühlt sich ausgeschlossen,
isoliert und übergangen. Natürlich auch gemobbt. Klassische Beispiele finden
sich am Jahresanfang oder am Jahresende, also etwa beim alljährlichen
Weihnachtsessen oder beim Neujahrsapéro. Kommt ein Schulleiter oder eine
Schulleiterin bei einem Jahresschlussessen etwas verspätet und lobt er oder sie
dann eine Fachschaft wie vielleicht die Physik für das glanzvolle Abschneiden
beim Swiss Young Physicists' Tournament, preist einen Fachvorstand für sein
Engagement, das bis an und über die physische und psychische Belastung
hinausgehe, dankt einer Kommission für ihren professionellen Einsatz, ohne sich
auch beim Rest des Kollegiums zu bedanken, verhält er oder sie sich so unbewusst
unsensibel wie eine Lehrperson, die es nicht unterlassen kann, bei jeder
Gelegenheit den Schüler X oder die Schülerin Z für ihre Intelligenz und ihr
Fachwissen zu loben. Die unverhohlene Hervorhebung irgendwelcher
Leistungsträger führt zur unverhohlenen Herabsetzung des ganzen Rests der
Klasse. Genauso stossend ist die scheinbar undurchschaubare Beförderungsquote,
wenn sowieso die ganze Schule weiss, wer in diesem oder jenem Jahr abermals
nicht befördert wurde. Auch das Privileg, sich immer wieder den ach so
beliebten Freitag als Arbeitstag streichen zu lassen, die grosszügige Erteilung
von Weiterbildungswochen, während andern die Anträge auf Weiterbildung verweigert
werden, weil sie nicht mit dem erteilten Fach in einem engeren Zusammenhang
stehen, schafft nur böses Blut. Die Betroffenen, wer kann es ihnen verdenken,
fühlen sich herabgesetzt und ungerecht behandelt. Auch kann es im Grunde nicht
angehen, dass Lehrpersonen alle paar Jahre ein unbezahltes Sabbatical
einziehen, nur weil sie von Haus auf keine finanziellen Sorgen kennen oder
keine materiellen Ansprüche ans Leben stellen. Andere wiederum reichen bei
eigentlich offiziellen Schulveranstaltungen wie Wintersporttagen oder
Lehrerausflügen Jahr für Jahr ein Gesuch für Beurlaubung ein, entweder weil sie
keine Lust haben oder, wie sie vorgeben, die Betreuung für die Kinder während
ihrer Abwesenheit zu teuer komme. Auch nicht gerade guter Stil ist es, wenn Schulleitungen
mit den immer gleichen Kolleginnen und Kollegen essen gehen und sich dabei über
sogenannte Schul-Interna austauschen. Wie aber will das jemand wissen, der gar
nicht dabei ist? An allen Schulen gibt es so etwas, dem man früher Buschtelefon
gesagt hat. Fehlt zum Beispiel der Einzahlungsschein für den Wintersporttag im
offenen Lehrerfach, wissen auch alle, wer in diesem Jahr wieder daheim bleibt.
Offensichtlich kann an einer Schule als einem lebendigen Organismus nichts
unter dem sogenannten Deckel gehalten werden. Eine Schule lässt sich nicht
unter eine Glasglocke stellen. Alles kommt irgendwann ans Licht, alles ist letztlich
öffentlich. Schulen sind so wie wir Menschen auch ein offenes Buch!
Die Eltern wissen alles über Lehrer
und Schule von ihren Kindern, die Kollegen tauschen sich unter einander aus,
besonders wenn sie gut vernetzt sind und sich über offensichtliche Missstände und
Ungerechtigkeiten ärgern, vieles lässt sich non-verbal erkennen und alle sprechen
im Sinne von Schulz von Thun immer auch über sich selbst, wenn sie denn sprechen.
Selbst wenn sie nur „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ sagen. Dies liegt eben am
Selbstoffenbarungsaspekt der Sprache, wobei sich am Schluss lediglich die Frage
stellt, wie sehr einen die andern interessieren. Freilich ist dabei wohl davon
auszugehen, dass so wie Schüler sich oft und gerne über Lehrpersonen auslassen,
sich auch Lehrpersonen oft und gerne über Schulleitungen auslassen, namentlich
wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen.
Christoph Frei
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen