Noteninflation
im Unterrichtsfach Deutsch
Die Evaluation der
Maturitätsreform von Prof. Dr. Eberle und seinem Team der Universität Zürich
hat zutage gefördert, dass ein grosser Teil der Maturanden in der Erstsprache
kein für ein Studium genügendes Niveau erreicht. Prüfungsexperten bestätigen
auf Anfrage, dass es Maturanden gibt, die kaum einen einzigen deutschen Satz
korrekt schreiben können. Fehler in der Rechtschreibung seien zudem bei fast
allen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Interessant in diesem Zusammenhang
ist freilich der Umstand, dass, so der Bericht zu EVAMAR II, nur 4.7 %
ungenügende Maturanoten in der Erstsprache erteilt werden, wohingegen 24.4 %
ungenügende Maturanoten in Mathematik auszumachen sind. – Ist das tatsächlich
ein Problem? Und wenn ja, warum?
Vor allem in der Erstsprache zeigt gerade nicht die
Maturanote das Problem, das mit 4.7 % Ungenügenden natürlich auch keines wäre.
Die Maturanoten in Deutsch stehen sowohl für literarisches Wissen als auch für
die Fähigkeit der Textproduktion. In den mündlichen Prüfungen und für die
Vornoten dürfte Ersteres womöglich gewichtiger sein, weshalb eine Note 4 (oder
leicht höher) im Maturitätszeugnis nicht mit ausreichenden
Erstsprachenkenntnissen gleichzusetzen ist. Mit andern Worten garantieren die
genügenden erstsprachlichen Maturitätsnoten in keiner Weise eine allgemeine
Studierfä- higkeit. Dies freilich nicht, wie Prof. F. Eberle in seiner Replik
auf den Aufsatz «Bildungsstandards ante portas» von W. Herzog im «Gymnasium
Helveticum 3/2015» festhält, weil Maturitätsnoten sich in erster Linie auf
Literaturkenntnisse abstützen und keine Aufgaben zur Erfassung der
Sprachkompetenz von universitären Fachtexten des ersten Studienjahres oder die
Fähigkeit zur Reflexion ebensolcher Texte aus dem ersten Studienjahr
berücksichtigen. Wenn die Evaluation der Maturitätsreform 1995 (Phase II /
EVAMAR II) 2008 zum Ergebnis kommt, dass rund ein Drittel der Maturanden in der Erstsprache und in Mathematik kein für die
Hochschulen akzeptables Niveau ausweist, jedoch nur in Mathematik bei
Maturitätsprüfungen mehr als 20 % der Absolventen keine genügende Note erzielt,
im Unterrichtsfach Deutsch jedoch lediglich 4.3 %, so lieg der Schluss nahe,
dass im Unterrichtsfach Deutsch zu gute Noten erteilt werden. Kurz, die Deutschlehrerinnen
und Deutschlehrer verursachen die ihnen so oft vorgehaltene Noteninflation in
ihrem Fach selber. In der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 21. Januar 2015 sagt EDK
Generalsekretär Ambühl, die Qualität der Gymnasien beschäftige die EDK sehr.
Die Klagen über mangelhafte Orthographie und Syntax, Defizite in der
sprachlichen Logik, ganz generell über den schriftlichen Ausdruck, nähmen zu.
Dabei wäre der Auftrag eindeutig. «Der Artikel 5 des
Maturitätsanerkennungs-Reglements ist nichts anderes als die Umschreibung einer
Bildung einer akademischen Elite.» Er betont, die Gymnasien hätten eine
Bringschuld. Gerade weil die EDK das System mit einer relativ hohen Freiheit
für die Gymnasien und dem prüfungsfreien Zutritt an die Hochschulen erhalten
wolle, müssten die Gymnasien ein Interesse daran haben, jene Qualität zu
garantieren, zu der sie auch verpflichtet sind. Was heisst das für die
Gymnasien und die Deutschlehrer? Wenn festgestellt wird, dass ein gefühltes
Drittel der Maturandinnen und Maturanden nicht tolerierbare Fehler in
Orthographie und Syntax begeht, dass ihr schriftlicher Ausdruck oft ungenügend
ist, so müssen Gymnasiallehrer und Schulleitungen dringend wieder mehr Wert auf
den schriftlichen Ausdruck legen. Statt rein quantitative Beteiligungsnoten mit
Strichen für jede Wortmeldung zu erteilen, die erste und zweite
Lautverschiebung in der Sprachgeschichte oder die Götter der antiken Mythologie
memorieren zu lassen, um sie nachher zu examinieren, statt den Aufsatz je zur
Hälfte über die Grössen Form und Inhalt zu bewerten, so dass sprachlich
ungenügend ausformulierte Texte immer noch mit der Note 4 (im Sinne von Inhalt
5 Sprache 3) bewertet werden können - obwohl das Fach nicht Phantasie oder
Originalität, sondern deutsche Sprache heisst -, muss man vermehrt auch wieder
streng sein können. Man muss korrigieren, und zwar korrekt und genau, anstatt
bei der Note 3.75 oder 3.5 die Skala nach unten abzufedern. Nur gute Lehrer
erteilen schlechte Noten, hiess es einmal. Das ist aber unbequem und verlangt vor
allem Zivilcourage. Gefordert sind also in erster Linie die Gymnasiallehrer:
Haben sie den Anspruch, junge Menschen auf ein Hochschulstudium vorzubereiten,
dürfen sie vor den katastrophalen Sprachfehlern und den formalen Inkompetenzen
ihrer Schützlinge nicht länger die Augen verschliessen. – Andernfalls werden
die Erziehungsdirektoren der Kantone sich für basale fachliche Kompetenzen
starkmachen. Möglich, dass dies die Gymnasien unter Druck setzen würde, die
Grundlagen in der Erstsprache besser zu vermitteln und adäquater zu benoten.
Eine andere Frage ist, ob es dann wirklich besser wird. Mit Sicherheit wäre
dann der Weg von den basalen Kompetenzen hin zu Bildungsstandards nicht mehr
weit. Davon ist allerdings abzuraten, auch und vor allem mit Blick auf Erfahrungen,
die in andern Ländern schon gemacht worden sind.
Christoph Frei
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