Freitag, 17. Februar 2017


Noteninflation im Unterrichtsfach Deutsch




Die Evaluation der Maturitätsreform von Prof. Dr. Eberle und seinem Team der Universität Zürich hat zutage gefördert, dass ein grosser Teil der Maturanden in der Erstsprache kein für ein Studium genügendes Niveau erreicht. Prüfungsexperten bestätigen auf Anfrage, dass es Maturanden gibt, die kaum einen einzigen deutschen Satz korrekt schreiben können. Fehler in der Rechtschreibung seien zudem bei fast allen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Interessant in diesem Zusammenhang ist freilich der Umstand, dass, so der Bericht zu EVAMAR II, nur 4.7 % ungenügende Maturanoten in der Erstsprache erteilt werden, wohingegen 24.4 % ungenügende Maturanoten in Mathematik auszumachen sind. – Ist das tatsächlich ein Problem? Und wenn ja, warum?

Vor allem in der Erstsprache zeigt gerade nicht die Maturanote das Problem, das mit 4.7 % Ungenügenden natürlich auch keines wäre. Die Maturanoten in Deutsch stehen sowohl für literarisches Wissen als auch für die Fähigkeit der Textproduktion. In den mündlichen Prüfungen und für die Vornoten dürfte Ersteres womöglich gewichtiger sein, weshalb eine Note 4 (oder leicht höher) im Maturitätszeugnis nicht mit ausreichenden Erstsprachenkenntnissen gleichzusetzen ist. Mit andern Worten garantieren die genügenden erstsprachlichen Maturitätsnoten in keiner Weise eine allgemeine Studierfä- higkeit. Dies freilich nicht, wie Prof. F. Eberle in seiner Replik auf den Aufsatz «Bildungsstandards ante portas» von W. Herzog im «Gymnasium Helveticum 3/2015» festhält, weil Maturitätsnoten sich in erster Linie auf Literaturkenntnisse abstützen und keine Aufgaben zur Erfassung der Sprachkompetenz von universitären Fachtexten des ersten Studienjahres oder die Fähigkeit zur Reflexion ebensolcher Texte aus dem ersten Studienjahr berücksichtigen. Wenn die Evaluation der Maturitätsreform 1995 (Phase II / EVAMAR II) 2008 zum Ergebnis kommt, dass rund ein Drittel der Maturanden in der Erstsprache und in Mathematik kein für die Hochschulen akzeptables Niveau ausweist, jedoch nur in Mathematik bei Maturitätsprüfungen mehr als 20 % der Absolventen keine genügende Note erzielt, im Unterrichtsfach Deutsch jedoch lediglich 4.3 %, so lieg der Schluss nahe, dass im Unterrichtsfach Deutsch zu gute Noten erteilt werden. Kurz, die Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer verursachen die ihnen so oft vorgehaltene Noteninflation in ihrem Fach selber. In der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 21. Januar 2015 sagt EDK Generalsekretär Ambühl, die Qualität der Gymnasien beschäftige die EDK sehr. Die Klagen über mangelhafte Orthographie und Syntax, Defizite in der sprachlichen Logik, ganz generell über den schriftlichen Ausdruck, nähmen zu. Dabei wäre der Auftrag eindeutig. «Der Artikel 5 des Maturitätsanerkennungs-Reglements ist nichts anderes als die Umschreibung einer Bildung einer akademischen Elite.» Er betont, die Gymnasien hätten eine Bringschuld. Gerade weil die EDK das System mit einer relativ hohen Freiheit für die Gymnasien und dem prüfungsfreien Zutritt an die Hochschulen erhalten wolle, müssten die Gymnasien ein Interesse daran haben, jene Qualität zu garantieren, zu der sie auch verpflichtet sind. Was heisst das für die Gymnasien und die Deutschlehrer? Wenn festgestellt wird, dass ein gefühltes Drittel der Maturandinnen und Maturanden nicht tolerierbare Fehler in Orthographie und Syntax begeht, dass ihr schriftlicher Ausdruck oft ungenügend ist, so müssen Gymnasiallehrer und Schulleitungen dringend wieder mehr Wert auf den schriftlichen Ausdruck legen. Statt rein quantitative Beteiligungsnoten mit Strichen für jede Wortmeldung zu erteilen, die erste und zweite Lautverschiebung in der Sprachgeschichte oder die Götter der antiken Mythologie memorieren zu lassen, um sie nachher zu examinieren, statt den Aufsatz je zur Hälfte über die Grössen Form und Inhalt zu bewerten, so dass sprachlich ungenügend ausformulierte Texte immer noch mit der Note 4 (im Sinne von Inhalt 5 Sprache 3) bewertet werden können - obwohl das Fach nicht Phantasie oder Originalität, sondern deutsche Sprache heisst -, muss man vermehrt auch wieder streng sein können. Man muss korrigieren, und zwar korrekt und genau, anstatt bei der Note 3.75 oder 3.5 die Skala nach unten abzufedern. Nur gute Lehrer erteilen schlechte Noten, hiess es einmal. Das ist aber unbequem und verlangt vor allem Zivilcourage. Gefordert sind also in erster Linie die Gymnasiallehrer: Haben sie den Anspruch, junge Menschen auf ein Hochschulstudium vorzubereiten, dürfen sie vor den katastrophalen Sprachfehlern und den formalen Inkompetenzen ihrer Schützlinge nicht länger die Augen verschliessen. – Andernfalls werden die Erziehungsdirektoren der Kantone sich für basale fachliche Kompetenzen starkmachen. Möglich, dass dies die Gymnasien unter Druck setzen würde, die Grundlagen in der Erstsprache besser zu vermitteln und adäquater zu benoten. Eine andere Frage ist, ob es dann wirklich besser wird. Mit Sicherheit wäre dann der Weg von den basalen Kompetenzen hin zu Bildungsstandards nicht mehr weit. Davon ist allerdings abzuraten, auch und vor allem mit Blick auf Erfahrungen, die in andern Ländern schon gemacht worden sind.

Christoph Frei

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