Von den
Toten auferstanden
Marina Keegan ist jung, hübsch und tot. Was für ein
Glück, dass sie zuvor einige Texte geschrieben hat, die der S. Fischer Verlag
unter dem Titel „Das Gegenteil von Einsamkeit“ (im Original „The Opposite of
Loneliness“) im Mai dieses Jahres in aufmerksamkeitsheischender Buchgestaltung
publizierte. Auf dem Cover ein grosses Foto der Autorin, eine junge Frau, die
etwas verloren in die Kamera blickt. Sie trägt einen Schlabberpulli mit einer
grossen, gelben Jacke, an der ein brauner Knopf fehlt, und einen kurzen
Blümchenrock. „Nur wenige Tage nach ihrem Yale-Abschluss stirbt
die 22-jährige Marina Keegan bei einem Autounflall. Und hinterlässt der Welt
brillante Stories voller Lebenslust. Marina Keegan war ein Ausnahmetalent. Sie
vereint schwerelosen, sensiblen Optimismus mit literarischer Reife. Die Stories
sind klangvoll, witzig, und doch gebrochen, manchmal wild und angriffslustig;
sie sind ein stürmisches Plädoyer für die Jugend, die Lebensfreude, begeistern
durch ihre Hoffnung und Entschiedenheit: Lasst euch nicht gleich von McKinsey
anheuern, findet eure Bestimmung, habt Vertrauen in eure Zukunft! Eine
flammende Aufforderung, die eigene Jugend und den Sinn des Lebens (wieder) zu
entdecken“, steht auf der Rückseite der Hörbuchfassung. Natürlich bleibt nicht
unerwähnt, dass das Buch, eine Internetsensation mit 2,1 Millionen Klicks,
monatelang auf der „New York Times“ Bestsellerliste stand.
Verkauft man so
heute Bücher? Kein Zweifel, mit „The Opposite of Loneliness“, ihrer letzten
Kolumne für die Yale Campus Zeitschrift, ist Marina Keegan ein Text gelungen, der
sich durch Authentizität vom Gros des Generationsgeschreibes absetzt; er bildet
einen wohltuend Kontrast zu den Fin-de-Siècle-Gedichten
von Julia Engelmann, wie sie im letzten Qi besprochen wurden. Doch dem Verlag
scheint es nicht in erster Linie darum zu gehen, dass Marina Keegan ein
literarisches Talent war. Sein Verkaufsargument erschöpft sich vielmehr in der
traurigen Geschichte, dass Marina Keegan auf der Fahrt mit ihrem Freund nach
Cape Code zur Geburtstagsfeier ihres Vaters mit nur 22 Jahren bei einem
Autounfall ums Leben kam. Der Tod als Verkaufsargumnet läuft nicht erst
seit Wolfgang Herrndorf und David Foster Wallace, das Makabre, das Echte
verkauft sich, wenn Verlage in Zeiten von E-Books in einer allgemeinen
Umsonstkultur nochmals kurz aufatmen und eine letzte Party zur Verabschiedung
des Gutenbergzeitalters schmeissen. Natürlich wird das grässliche
Verkaufskonzept Keegans intelligenten Stories und Essays nicht gerecht. Vor
allem hätte der Text „The Opposite of Loneliness“, nun schon das Vermächtnis
dieser jungen und junggestorbenen Schriftstellerin, etwas Besseres verdient. Ausserdem
zeugt die Unterschiedlichkeit der Texte von einer Autorin, die sich ausprobiert
hat. Die noch nicht genau wusste, wohin mit sich selbst. Die auch genau das in
"Das Gegenteil von Einsamkeit" thematisiert und damit ein
lebensbejahendes Pamphlet verfasst hat, das sich zu Gemeinschaft, zum Zweifeln,
zum Leben bekennt. "Einige von uns wissen genau, was sie wollen, und sie
sind auf dem Weg dorthin. Euch sage ich: Herzlichen Glückwunsch, aber ihr kotzt
mich an", schreibt sie. „Some of us know exactly what we want and are
on the path to get it. To you I say both congratulation and you suck.“ Die Worte einer jungen
Frau, die Lust auf das Leben hat und schreiben kann. Mit "Das Gegenteil von Einsamkeit"
gelang Marina Keegan ein Porträt ihrer Generation.
Millionen die zählen, Eltern wie ihre
erwachsenen Kinder, müssen sich in den nachgelassenen Worten Marina Keegans
wiederfinden. Die Hommage an die Jugend ("Wir sind so jung, wir sind
gerade 22 Jahre alt, wir haben so viel Zeit") wird in ihrer entsetzlichen
Vergeblichkeit zum Testament. Zweiundzwanzigjährige hinterlassen freilich keine
letzten Willen, ihre Lebenszeichen werden postum dazu. Und das Internet
verbindet die Elemente weiland bürgerlicher Trauer - von der Meldung über die
Anzeige bis zum Nachruf - und vervielfältigt sie zu einer virtuellen Feier des Lebens.
Es gibt das literarische Genre des Soldatenbriefs; es gibt letzte Notizen und
Protokolle von Todgeweihten, letzte Worte von Zum-Tode-Verurteilten. Nun
schafft das Internet, das keine Spuren tilgt, das Genre der Retrospektive und
der Feier eines noch ganz ungelebten Lebens. Man kann darüber streiten, ob es
gerecht ist, Leichenreden auf Marina Keegan zu halten, nur weil sie eine
Elite-Universität besuchte, Geschriebenes hinterliess, Freunde im Journalismus
hatte und so klug, schön und jung war, wie man es sich für die eigenen Kinder
wünscht. Ist das zu früh zerstörte Leben einer weniger begabten, weniger
attraktiven und weniger erfolgreichen Frau auch weniger wert? Wie Figura zeigt,
vermutlich schon. Doch das Web kann nicht fair und gerecht sein. Es ist Forum,
nicht Gericht.
Marina Keegan glaubte daran, dass sie die
Pflicht hätte, Gutes zu tun zum Wohle der Gesellschaft, in den Künsten, im
Bürgerengagement, in der Forschung. Fast jeder Studienanfänger komme mit großen
altruistischen Zielen und gut die Hälfte gingen mit dem Ziel, in der
Finanzindustrie reich zu werden. So dachte Marina Keegan. Es ist zu fürchten,
dass nicht wenige, die jetzt gerührt um die Idealistin trauern, mit der
quicklebendigen Kritikerin nichts anzufangen wussten. "Wir können uns
verändern, wir können neu anfangen, der Gedanke, dafür sei es zu spät, ist
komisch, er ist verrückt. Wir sind so jung. Wir können nicht, wir DÜRFEN nicht
dieses Gefühl für unsere Möglichkeiten verlieren. Denn am Ende ist es alles,
was wir haben."
Vergleicht man zum Schluss die Texe von Julia
Engelmann mit jenen von Marina Keegan, beides Ikonen ihrer Generation, offenbaren
sich in fast idealtypischer Weise Unterschiede zwischen der europäischen und
der amerikanischen Geisteshaltung. Vermutlich wird jeder, der schon einmal
länger in Amerika gelebt hat, bei der Rückreise nach Europa den
lebensbejahenden, oft erschreckend naiven, jedoch gerade deswegen so
unerschütterlichen Optimismus vermissen, der für so viele Amerikaner bezeichnend
ist. Der mit den Erfolgen der Vergangenheit begründete Optimismus führt zur
festen Überzeugung, dass man auch kommenden Herausforderungen gewachsen sein
wird. Dieser Optimismus im Denken führt zu einem Pragmatismus im Tun. Es ist
kein Problem, Probleme zu bewältigen. Probleme sind nicht eine Gefahr. Sie sind
eine Herausforderung. Eine Analyse des Problems ist gut und wichtig. Eine
Lösung ist besser. Perfektionismus ist wunderbar. Aber vielleicht genügt ja
vorerst auch ein brauchbares Provisorium. Das dafür schnell und zweckmässig zur
Verfügung steht. Der Glaube an die Machbarkeit findet sich tagein, tagaus an
unterschiedlichsten Stellen und in verschiedensten Situationen. Faszinierend
ist, dass die Ursprünge des Strebens nach besseren Lösungen für tägliche
Herausforderungen einer Siedlergeneration entstammen, die vor allem aus
Kontinentaleuropa kam. Menschen, die nach neuen Technologien und Techniken
suchten, fanden in der Neuen Welt ein paradiesisches Betätigungsfeld. Die europäischen
Pioniere machten Amerika zu dem, was es dann für viele auch tatsächlich
geworden ist: ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die nach vorne
strebenden Pioniere sind heutzutage in Europa selten geworden. In den USA
hingegen haben es Pioniere aus aller Welt immer noch einfacher. Man findet sie
deswegen öfter. Auch im Alltag. Und zwar überall da, wo es um zweckmäßige, der
Situation angemessene Lösungen für ganz einfache ökonomische, gesellschaftliche,
aber auch zwischenmenschliche Herausforderungen geht. Da, wo es schlicht darum
geht, Probleme zu lösen und nicht darum, über sie zu lamentieren. Ebenso
unverkrampft gilt in den USA, dass alles erlaubt ist, was nicht verboten wurde im
Unterschied zu Europa, wo alles verboten scheint, was nicht erlaubt wurde. Das
schafft ein Umfeld in Amerika, das für Neuerungen offen ist. Man wagt etwas,
probiert und schaut, was dabei herauskommt. Hat man Erfolg, wird aus der Idee
ein Business. Scheitert man, ist es kein Unglück. Man lernt aus den Fehlern und
macht es ein nächstes Mal besser. Kritisch ist nicht das Hinfallen, sondern das
Liegenbleiben. Wer wieder aufsteht, muss nicht gegen Schadenfreude kämpfen,
sondern darf mit Anerkennung rechnen. Ganz offensichtlich lassen sich junge
Amerikanerinnen und Amerikaner nicht so sehr von der Zukunft verunsichern wie
ihre europäischen Alterskollegen. Optimismus und Pragmatismus spielen, wie sich
den Versuchen von Marina Keegan entnehmen lässt, in den USA eine wichtige
Rolle. Etwas mehr von beiden könnte Europa nicht schaden. Jedenfalls gewinnt
man diesen Eindruck, wenn man sich Julia Engelmanns liedhafte Textformen über Bummelei,
Handlungsaufschub und Prokrastination zu Gemüte führt. Trotzdem oder gerade
deswegen verlohnt es sich, die Texte der beiden privilegierten Twentysomethings
zu lesen, gerade und vor allem dann, wenn man tagtäglich mit jungen und
intelligenten Menschen, der so genannten Generation Internet also, zu tun hat
und sie in ihrem Wunsch nach Einzigartigkeit begreifen möchte.
Christoph Frei
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