Freitag, 6. Januar 2017



Bertolt Brecht: Über die Bezeichnung Emigranten






Über die Bezeichnung Emigranten

Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab:
Emigranten.
Das heisst doch Auswanderer. Aber wir
Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss
Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht
Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer
Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da
aufnahm.

Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen
Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung
Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling
Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend
Und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend.
Ach, die Stille der Stunde täuscht uns nicht! Wir hören die
Schreie

Aus ihren Lagern bis hierher. Sind wir doch selber
Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen
Über die Grenzen. Jeder von uns
Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht
Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt.
Aber keiner von uns
Wird hier bleiben. Das letzte Wort
Ist noch nicht gesprochen.

-      -   Bertolt Brecht


Bertolt Brecht (1898 – 1956) musste 1933 ins Ausland fliehen. Über Prag, Wien, die Schweiz und Frankreich kam er nach Dänemark, wo das Gedicht entstanden ist. Als 1940 deutschen Truppen nach Dänemark eindrangen, musste er weiterfliehen; über Schweden und die Sowjetunion gelangte er schliesslich in die USA, wo er bis 1947 blieb.

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