Samstag, 15. April 2017

Der Lehrplan 21 unter der Lupe 








Die aktuelle Diskussion des Kompetenzbegriffs in den Erziehungswissenschaften ist eine Konsequenz der standardbasierten Reform. Ganz im Sinne der Zeit werden Bildungssysteme neu, zwar nicht ausschliesslich, so doch deutlich stärker vom Ertrag her betrachtet. Für die obligatorische Schule halten nationale Bildungsziele oder eben Bildungsstandards fest, welche Grundkompetenzen wann und auf welcher Jahrgangsstufe erreicht werden müssen. Die wichtigsten Elemente der evidenzbasierten Reform haben Bildungsexperten und Politiker im Harmos-Konkordat festgehalten. Die Orientierung des schulischen Lernens an Kompetenzen soll durch darauf abgestimmte Lehrpläne und Lehrmittel Unterstützung finden. Mit sogenannten Referenztests ist das Erreichen der Grundkompetenzen über präsentative Stichproben zu überprüfen. Mit Hilfe individueller Standortbestimmungen soll eine auf die Grundkompetenzen abgestimmte FeedbackKultur im Unterricht angeregt werden. Als erstes Element der Reform wurden Bildungsstandards im Sinne nationaler Bildungsziele festgelegt. Als Grundlage für die Setzung von Bildungsstandards dienen Kompetenzmodelle, deren konkrete Ausformulierung in den Fächern erfolgt. Die einzelnen Kompetenzmodelle bauen auf dem Theorie- und Erkenntnisstand der Fachdidaktik auf, wobei selbstredend die jeweiligen Kompetenzstufen mitzuberücksichtigen sind. Im Anschluss daran wurde der Lehrplan 21 entwickelt, für viele ein monumentales Regelwerk der Bildungsbürokratie, das um die 550 Seiten umfasst und zurzeit über 4‘000 Kompetenzen auflistet, die die Schülerinnen und Schüler können sollen, wenn sie die Volksschule verlassen. Zwischen der fachdidaktisch bestimmten Kompetenzorientierung im neuen Lehrplan und den Erwartungen der Schulpraxis bestehen offensichtlich Differenzen. 


Um das komplexe Geschäft mit der Überkomplexität weiter zu verkomplizieren, sei daran erinnert, dass Testinstrumente, mit denen eine zuverlässige Rückmeldung im Hinblick auf das Erreichen der Standards sowie die Entwicklungsfortschritte von Schülerinnen und Schüler gegeben werden soll, noch gar nicht angedacht sind. Kompetenzen müssen sich allerdings messen lassen. Somit stellen sich für die Entwicklung der geplanten Referenztests eine Reihe von Herausforderungen, zumal der Lehrplan 21 als inhaltliche Grundlage nicht nur durch die ihm eigene Vielfalt geprägt ist, sondern auch eine je nach Fach verschiedene Struktur ausweist. Ausserdem lassen sich Kompetenzmodelle nicht immer eins-zu-eins mit Leistungstests abbilden. Das Kompetenzmodell scheint sowohl theoretisch als auch praktisch fragil und ungeklärt. Der Beweis, dass es sich in der Praxis bewährt, ist so jedenfalls nicht zu erbringen. Klar und deutlich zeigt sich nur, das wird an dieser Stelle wohl für alle evident, dass zwischen der fachdidaktisch erwünschten Kompetenzorientierung und der testtheoretisch möglichen Kompetenzerfassung Gegensätze bestehen, die methodisch allenfalls bedingt aufzulösen sind. Wie also soll das komplexe Geschäft mit der Überkomplexität entkompliziert werden? Lassen sich die Spannungsfelder zwischen Schulpraxis, Fachdidaktik und Testtheorie überhaupt auflösen, ohne von allen Beteiligten die Bereitschaft zu erwarten, an sich unzumutbare Kompromisse einzugehen, und zwar auch dann, wenn sie sich von Anbeginn an gegen eine unnötige Verkomplizierung des doch recht komplexen Unterrichtsgeschäfts ausgesprochen haben?


«Bildungsstandards» sind Ziele oder Erwartungen, die für einen bestimmten Zeitraum gelten und deren Erreichung überprüft wird. Natürlich sind Leistungsziele in der Schule immer überprüft worden, wenn auch nicht mit Hilfe von Leistungstests, die auf Kompetenzstufen hin anlegt sind, so dass die Ergebnisse an den Auftraggeber rückvermittelt werden können. Als Kernidee stellt sich dabei heraus, dass sich Leistungen und Lernstandards immer nur gestuft abbilden lassen. Gestufte Leistungsbewertungen erscheinen plötzlich als Normalzustand, der sich mit der je erreichten Kompetenz objektivieren lässt. Bereits hier meldet sich ein stiller Vorbehalt, eine innere Skepsis dem weitverbreiteten Modebegriff «Kompetenz» gegenüber, der für alles herhalten muss, das irgendwie innovativ klingt. Didaktische Theorien haben schliesslich noch nie den Unterrichtserfolg mit dem blossen Nachvollzug von Schulwissen gleichgesetzt. (Bezeichnenderweise heisst der englische Ausdruck für Lernen «to study».) Somit geht es vor allem um das Verständnis und die Anwendung des Gelernten durch die Schülerinnen und Schüler, also um zunehmendes Können oder, wenn man so will, um stetig verbesserte Kompetenz. Anders formuliert, dürfen Klassen durch den Unterricht nicht geistig schwächer werden, indem sie zum Beispiel in einer Fremdsprache mehr verlernen als zusätzlich lernen. Wie oft dieses Schulübel der Fall ist, wird trotz entsprechender Schülervoten nicht zur Kenntnis genommen. Dennoch ist aus Sicht von aufgeweckten Schülerinnen und Schülern das Problem der Nachhaltigkeit des Unterrichts nichts Neues. Die Frage stellt sich, warum so oft eine Nachbesserung mit anwendbaren Methoden ausbleibt. Ist es, weil die erforderlichen Methoden von der pädagogisch-didaktischen Ausbildung nicht vermittelt wurden, oder ist es, weil die Lehrpersonen vor den vermeintlichen Trivialitäten des Unterrichtsalltags zurückweichen?

Neu an fachlichen und überfachlichen Standards ist der Umstand, dass man sie präziser als bislang zu beschreiben versucht. Sie sollen eine höhere Verbindlichkeit erlangen, damit sich die Ergebnisse des Unterrichts systemwirksamer beeinflussen oder steuern lassen, und zwar auf möglichst allen Stufen. Wie aber will man etwas wirksam beeinflussen, was tausende von Lehrkräften Tag für Tag an Schulen in der Schweiz tun oder lassen?

Es gilt als ausgemacht, dass Standards mit Leistungstests verbunden sind. Diese sind das eigentlich Innovative, denn curriculare Standards gab es natürlich schon immer, jedoch nicht in der elaborierten Form von Kompetenzmodellen, wodurch der Lernweg stärkere Beachtung findet. Aus Gründen der Komplexität ist die Bezugsnorm für Leistungsbewertung nach wie vor die einzelne Klasse. Bewertungen erfolgen punktuell bezogen auf bestimmte Aufgaben und nicht auf Lernprozesse. Für alle gelten die gleichen Ziele. Die Beschreibung der Leistung erfolgt in Form von Noten, und das Ergebnis ist ein Notenschnitt nach einer Lernperiode. Einen Vergleich gibt zwischen einzelnen Klasse oder Lehrpersonen gibt es in der Regel nicht.

Christoph Frei






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen