Das Internationale Baccalaureate Diploma als Beispiel einer
vereinheitlichten Abschlussprüfung: Ein Erfahrungsbericht
Das Internationale Baccalaureate Diploma (IB) ist ein internationales Bildungsprogramm, das junge Menschen vor allem für englischsprachige Universitäten vorbereitet. Es basiert auf der Förderung des unabhängigen Lernens und kritischen Verarbeitens und zielt auf die Bildung von reifen, kritisch denkenden Persönlichkeiten hin. Jährlich absolvieren rund 130'000 Schülerinnen und Schüler auf der ganzen Welt das IB Diploma. Lernende treten in der elften Klasse in das IB Programm ein und schliessen es mit den IB-Abschlussprüfungen im Mai der zwölften Klasse ab. - Da das Internationale Baccalaureate zunehmend an öffentlichen Gymnasien absolviert werden kann, wird es über kurz oder lang den immersiven Unterricht des zweisprachigen Maturitätslehrgangs konkurrenzieren, zumal es sich um einen Abschluss handelt, der im Unterschied zur Schweizer Matura von den meisten internationalen Universitäten anerkannt wird. Beim IB handelt es sich um einen vereinheitlichten Prüfungstyp; daher stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich zum Beispiel für einen Deutschlehrer ergeben, wenn er mit seinen Klassen ein Prüfungsziel erreichen muss, das er im Hinblick auf Korrektur und Prüfungsniveau nur noch bedingt mitbestimmen kann. Aus diesem Grund traf ich mich mit einem Studienkollegen der Germanistik, der seit einigen Jahren Matura und IB unterrichtet und daher beide Programme vergleichen kann.
Das IB erlaubt den Lehrpersonen nur noch ansatzweise, individuell auf die
Schülerinnen und Schüler zugeschnittene Prüfungsaufgaben zu stellen. Trotzdem
tendieren viele Schüler, wenn das IB angeboten wird, zu diesem Abschluss, da er
von den meisten internationalen Universitäten anerkannt wird. Zur Erlangung
des IB-Diploms muss man das so genannte «IB Diploma Program» absolviert haben, was rund zwei Schuljahre dauert. Dieses «Diploma Program» entspricht der gymnasialen Oberstufe (Klasse 11 und 12). Beim IB werden
den Lehrpersonen gewisse Eckpunkte vorgegeben. Die Hälfte der Noten im Fach
Deutsch wird durch internal assessments erzielt. Die andere Hälfte der Prüfungen wird extern konzipiert, extern
zugestellt, intern durchgeführt und wieder extern korrigiert.
Die sogenannten internal assessments werden von einem Lehrer der Heimschule bewertet.
Die Resultate müssen allerdings begründet einer externen Stelle zur Moderation,
einem vom IB zugewiesenen Examinor, zugestellt werden, welcher die
Rechtmässigkeit der Ergebnisse überprüft. Die mündlichen Prüfungen werden von
der Heimschule aufgenommen und müssen für den externen Examinor hochgeladen
werden, der dann darauf zugreifen kann, um der prüfenden Lehrperson ein
Feedback zu erteilen, ob er mit der rechtmässigen Bewertung einverstanden ist. Das Problem für die
einzelne Lehrperson besteht nun darin, dass sie 50% der Abschlussprüfung gar nicht
kennt, während sie sich bei den internen Prüfungen an standardisierte, vorgegebene
Beurteilungsraster durch das IB halten muss. Vornoten aus dem Unterricht, die
der Lehrer setzt, gibt es keine.
Ein derartiger weltweiter Prüfungsmodus bedeutet
für die einzelne Lehrperson der Erstsprache ein verstärktes «Teaching to the Test», auch wenn er bestimmte Vorgaben der extern
konzipierten Abschlussprüfung kennt. So müssen Absolventen, die Deutsch als Erstsprache gewählt haben, zwischen
einer Gedichtinterpretation oder einer Textstelleninterpretation in Form einer
Kurzgeschichte wählen. Hinzu kommt ein vergleichender Essay, wobei die
Kandidaten zwei literarische Werke miteinander vergleichen müssen. Die Lehrer
müssen mit den Absolventen als Prüfungsvorbereitung vier Werke gelesen und
besprochen haben, wobei die Werke alle der gleichen Textsorte angehören. Die
Prüfung besteht nun darin, dass die Kandidaten drei
Vergleichsaspekte zur Wahl bekommen, die sie in zwei der besprochenen Texte
darzulegen haben. Entsprechend sehen die Prüfungsaufgaben im Hinblick auf den
vergleichenden Essay etwa wie folgt aus: Vergleichen Sie zwei der besprochenen
Werke hinsichtlich des Gebrauchs der Metaphern, der Ortsgestaltung bzw. der
Erzählperspektive. In der Konsequenz müssen vorbereitende Lehrer ganz genau
wissen, wie die Prüfung aufgebaut ist und was die Schüler wissen müssen. Die
Urform der Prüfung müssen sie gleichsam internalisiert und verstanden haben.
Lehrer trainieren die Schüler auf bekannte, alte
Prüfungsformen, was bei Maturitätsprüfungen nicht der Fall sein kann, weil
Lehrpersonen dann rasch in die Nähe des möglichen Betrugs geraten, zumal sie
ja selber die Prüfungsaufgaben erstellen. Der Prüfungsinhalt kann beim IB
nicht verraten werden; deshalb trainiert der Lehrer in Bezug auf alte Prüfungen
mehr. Was aus Sicht des Lehrers wichtig und bedeutsam ist, droht oft als nicht
prüfungsrelevant unter den Tisch zu fallen oder wird von den Schülern nicht
akzeptiert. Mit andern Worten geht für viele Lehrpersonen das, was man früher
als Bildung bezeichnet hat, verloren. Ähnlich formuliert es Prof. Kaspar H.
Spinner in seiner Rede «Der standardisierte Schüler», wenn er festhält:
«Wichtige Dimensionen, die bislang in der Schule ihren Platz hatten, drohen in
einem Unterricht, der nur noch das standardisierte Problemlösen vermittelt,
vergessen zu werden (...) Die Vorstellung, dass alles in einem planbaren Zusammenhang
funktionieren soll, durchdringt von der Idee der Kompetenzstufenmodelle, in
denen man von Stufe zu Stufe hinaufklettern soll, unsere Bildungsvorstellung
bis zur Lernsituation des einzelnen Schülers, in der das Widerständige, das
Überraschende, das Unbequeme nur noch als Anlass für die Anwendung einer
Problemlösungsstrategie gesehen wird. Es zählt, was erfolgreich trainierbar
ist. Angeleitetes Training ersetzt geistig selbständiges Lernen.»
Nichtsdestotrotz ist dem IB zugutezuhalten, dass der Abschluss weltweit von allen Universitäten anerkannt ist. Da die
Abschlussresultate sich zuverlässig vergleichen lassen, gelten die Noten als
aussagekräftig. Wenn im IB jemand im Fach Deutsch eine Fünf erzielt, weiss die
Universität, was das heisst. Kommt er hingegen von einer Zürcher
Maturitätsschule mit einer Fünf, hat das unter Umständen für eine ausländische
Universität keine Relevanz, da gewissermassen keine einheitliche Bewertung
vorliegt. Auch werden Schüler beim IB weniger zu Märtyrern gewisser
Steckenpferde ihrer Lehrpersonen. Weitere Vorteile sind eine gewisse OutputSteuerung.
Auch liegt der Selektionsdruck nicht beim Fachlehrer. Gleichwohl sind Erfolg
und Misserfolg deutlich stärker mit dem Lehrer verknüpft. Die externe Prüfung
wird indirekt zum Beurteilungskriterium für die Lehrerleistung. Solange seine
externen Prüfungsresultate hoch sind, wird er nichts von der Institution, die
ihn angestellt hat, zu befürchten haben. Sind seine internen Prüfungsnoten im
Negativfall jedoch deutlich besser als die externen, wird er vermutlich für den
Misserfolg der Schüler zur Rechenschaft gezogen. Demgegenüber werden die
Maturitätsprüfungsresultate an Zürcher Gymnasien in der Regel offiziell gar
nicht zur Kenntnis genommen. Auch gibt es für gewöhnlich keine Feedbacks.
Ein grosser Irrtum aller Zentralisierungsbestrebungen ist allerding der Glaube, dass
sich der Arbeitsaufwand bei solchen Prüfungsformen effizienter gestalten lässt.
Der Arbeitsaufwand, der für die einzelnen Lehrer anfällt, ist deutlich höher
als bei traditionellen Maturaprüfungen; schliesslich lässt sich dieser nicht
zentralisieren, allein schon wegen des anfallenden Papierkriegs.
Christoph Frei
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