Dienstag, 27. Juni 2017

Wider den «Deppen-Apostroph»





Die Schweiz ist ein freies Land. Jeder kann hier sagen, was er will; er kann den Chef beleidigen oder einen rassistischen Spruch ablassen: Er muss nur mit den Folgen fertig werden; Entlassung, soziale Ächtung. Jeder kann das, was er zu sagen hat, auch ausdrücken, wie er will. Aber auch das hat Konsequenzen: Wer grammatisch falsche Sätze bildet, markiert sich als Ausländer (oder als einer, der mit der Sprache spielt. Oder als der Dichter Ernst Jandl). Wer sich geschraubt oder wolkig äussert, erntet Unverständnis oder Desinteresse, kommt jedenfalls mit seinem Anliegen nicht weit. Es ist eben nicht egal, was man sagt – und schon gar nicht, wie man es sagt.

Denn Sprache ist immer auf ein Gegenüber bezogen, auf einen Zuhörer oder Leser. Wer spricht oder schreibt, der will etwas: etwas mitteilen, erzählen, von etwas überzeugen, jemanden zu etwas bewegen. Sprache ist also Handlung, weshalb die Sprachwissenschaft auch vom «Sprechakt» spricht. Und diese Handlung hat eine Form. Um diese Form geht es der Sprachkritik.


Sprachkritik, Sprachpflege – das klingt vorgestrig und verstaubt, nach einer Beschäftigung für Spezialisten, Pedanten, Beckmesser. Sind wir nicht freie Menschen und reden, wie uns der Schnabel gewachsen ist? Verändert sich nicht die Sprache, strotzen nicht unsere SMS von Abkürzungen, Dialektwörtern und Privatwendungen, bei denen sich dem Duden die Haare sträubten, wenn er welche hätte? 





Die Gämse: Sprache als Streitfall 
Irrtum: Wenn wir «LOL» oder «Schnügel bisch de Bescht» schreiben, wenn wir dem Kollegen ein saloppes «Hoi» hinwerfen, dem Chef oder Kunden aber ein «Grüezi, Herr Direkter», zeigen wir Sprachbewusstsein, ohne dass es uns bewusst ist. Erweisen wir uns als Kenner und Anwender von Regeln, Registern, Stilebenen, aber auch der kreativen Möglichkeiten, die Sprache bietet.

Das geschieht meistens unwillkürlich. Aber immer wieder kommt Sprache auch zum Bewusstsein, wird gar zum Streitfall. So hat etwa die Rechtschreibreform über Jahre Emotionen geweckt, die in keinem Verhältnis zur Sache, also den vergleichsweise geringen Veränderungen standen; aber ob man ein gewisses Alpentier mit e oder ä schreibt, rührte offenbar bei vielen an Existenzielles. Das sprachliche «Gender mainstreaming» wiederum, das es bis zu einem über 100-seitigen Behördenleitfaden gebracht hat, zeigt, dass manche dem richtigen Sprachgebrauch eine gesellschaftsverändernde Kraft zutrauen: über die geschlechtergerechte Sprache zur geschlechtergerechten Welt.


Auch wer da skeptisch bleibt: Niemand wird bezweifeln, dass wir mit unserem Deutsch über ein grossartiges Instrument verfügen, das vom Ein-Wort-Fluch bis zu Kants «Kritiken» und dem «Zauberberg» alles ausdrücken kann, was ein menschliches Gehirn zu erdenken vermag. Ein so komplexes Instrument, dass auch die beste Software ihr (noch) nicht gewachsen ist – wie die kläglichen Versuche zeigen, anspruchsvolle Texte maschinell zu übersetzen.


Kein lebender Sprecher kann von sich behaupten, dieses Instrument perfekt zu beherrschen. Die Sprache ist voller Fallstricke, voller Zweifels- und Ermessensfragen. Auch Zeitungsredaktoren, für die das richtige Deutsch quasi die Berufskleidung darstellt, greifen immer wieder zum Duden (und haben das, dies nebenbei, vor der Rechtschreibreform nicht weniger getan). Auch grosse Schriftsteller, davon erzählen Lektoren hinter vorgehaltener Hand, schreiben durchaus kein fehlerloses Deutsch.




Den unterschwelligen Botschaften auf der Spur
Aber Sprachkritik geht ja über die Frage «richtig» oder «falsch», über Orthografie und Grammatik weit hinaus. Dass das Partizip Perfekt von «winken» korrekt «gewinkt» heisst und nicht «gewunken»; dass «gedenken» den Genitiv verlangt (wir haben seiner gedacht, nicht ihm): Darüber muss man nicht lange diskutieren.


Diskutabel und spannend für den Sprachbewussten sind eher Entwicklungen und Phänomene grundsätzlicher Art. Das Eindringen englischer Ausdrücke in den deutschen Sprachkörper etwa. Wobei die benutzten Formulierungen «Eindringen» und «Sprachkörper» bereits unterschwellige Wertungen mit sich tragen: als sei die deutsche Sprache ein Körper, der von Anglizismen heimgesucht, ja vergewaltigt wird. Mit diesen Formulierungen wollte ich zeigen, wie schnell Sprachbilder Ideologie transportieren. Solche unterschwelligen Botschaften zu erkennen und zu demaskieren: Auch das ist Aufgabe der Sprachkritik.


Aber wie halten wir es nun mit dem Englischen? Kein Fremdwort, auch kein englischer Ausdruck, ist per se (das ist wiederum ein Latinismus), also an sich schlecht. Viele sind unumgänglich, weil es kein entsprechendes deutsches Wort gibt oder eine Verdeutschung umständlich bis lächerlich wäre. Oder weil sich der englische Terminus in breiten Kreisen durchgesetzt hat: «Hardware» wäre so ein Fall. Andere sind verzichtbar, werden aber benutzt, weil der Sprecher als smarter Zeitgenosse dastehen will, der sich in unserer anglisierten Welt auskennt: «performance» zum Beispiel. Häufen sich die Anglizismen, wird die Äusserung zum hippen Kauderwelsch. Die Beispiele kennen Sie alle.


Wer Anglizismen generell ablehnt, schreibt sich aus der Sprachgemeinschaft seiner Gegenwart hinaus. Eine moderne Sprachkritik erkennt die gesellschaftlichen Grundlagen des sprachlichen Phänomens und fragt im Einzelfall, ob der englische Begriff sinnvoll, reizvoll, unumgänglich, überflüssig oder ärgerlich ist.





Der Deppen-Apostroph
Sprachkritik wertet also. Das unterscheidet sie von der Sprachwissenschaft, die lediglich beobachtet. «Fehler und Fehlentwicklungen gibt es in der Sprache nicht», schreibt der Sprachwissenschaftler Peter von Polenz. Am sogenannten Deppen-Apostroph («Otto’s Café») würde einen Linguisten nur interessieren, wo und wie oft er auftaucht. Der Sprachkritiker dagegen wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das Genitiv-s im Deutschen, anders als im Englischen, keinen Apostroph bekommt, also richtig: «Ottos Café». (Während des Ersten Weltkrieges nahmen Cafébesitzer in Wien den Accent aigu vom e, um nicht als Franzosenfreunde zu gelten.) Der Deppen-Apostroph ist ein Fall der gedankenlosen Übernahme aus dem Englischen, mit fatalen Folgen, etwa der Absurdität, ihn auch vor das Plural-s zu setzen: «Pizza’s zum halben Preis».


Sprache entwickelt sich: Mit dem Satz versuchen liberale Geister (oder bloss schlampige Sprecher) jedes neue Phänomen zu rechtfertigen. Der Sprachkritiker wendet sich gegen diesen Egalismus und fragt, ob die Entwicklung, das Aufkommen neuer Ausdrücke, der Sprache guttut oder nicht. Er fragt, ob es sich bloss um eine Mode handelt – wie «mega» als verstärkendes Adverb oder «Alter» als Passepartout-Anrede –, die irgendwann von einer anderen abgelöst wird, oder um eine Eintagsfliege aus der Werbung, die bewusst gegen Regeln verstösst («Hier werden Sie geholfen»). Derartiges ist höchstens kurios.

Anders, wenn sich Unschönes verbreitet und verfestigt – zum Schlechteren. «Weil» plus Hauptsatz wäre so ein Fall: «Ich konnte gestern nicht kommen, weil ich war krank.» Der Sprecher dieses Satzes wird zwar verstanden, aber er markiert sich dadurch auch: als Ignorant oder als Sprachschlamper. «Weil» verlangt die Nebensatzstellung («weil ich krank war»), wer unbedingt einen Hauptsatz anschliessen will, kann auf die Konjunktion «denn» zurückgreifen.

Wenn sich solche Schlamperei verbreitet, gar durchsetzt (und irgendwann im Duden toleriert wird), dann ist das kein Weltuntergang. Aber es beschädigt das komplizierte Regelwerk der Sprache, es klingt für ein sensibles Ohr wie ein Nagel, der eine Glasfläche zerkratzt, und es zeugt von schwindendem Sprachbewusstsein.


Sprachbewusstsein zu stärken: Das ist das eigentliche Anliegen der Sprachkritik. Deshalb soll sie auch nicht diktatorisch oder kathederstreng auftreten. Die Sprache ist kein Gesetzbuch mit Ordnungs- oder Haftstrafen, die bei Übertretungen verhängt werden. Sie ist aber auch kein Tummelplatz der Beliebigkeit. Der Sprachkritiker erinnert daran, welche Regeln absolut gelten – das bezieht sich auf Sprache als System, auf «langue» –, und was am konkreten Sprachgebrauch – der «parole», wie es die Linguisten nennen – jeweils zu beanstanden ist. Sprachkritik will nicht dekretieren, sondern überzeugen: dass der klare Ausdruck dem obskuren vorzuziehen ist, das Geradlinige dem Verschwurbelten, das Elegante dem Umständlichen, die Originalität dem ausgetretenen Pfad, die persönliche Prägung der Banalität des Gemeinplatzes.






Politische Sprachlenkung

Nun ist der Sprachkritiker ein Subjekt, keine Behörde, weder gewählt noch ernannt; sein Vorgehen ist oft subjektiv. Er muss auf die Überzeugungskraft seiner Darlegungen setzen. Aber er hat Kriterien, und er hat Gewissheiten. Eine davon ist die, dass man über «parole» streiten, die «langue» aber nicht antasten darf (Ausnahmen, wie zu künstlerischen Zwecken, bestätigen die Regel). Eine andere, dass eine politisch motivierte Sprachlenkung weder der Sprache noch der Politik dient. Dies zielt – und wird sicher heftigen Widerspruch erregen – auf all die Versuche, die Benachteiligung der Frauen in der Gesellschaft durch die Einführung von Kunstformen wie dem Binnen-I oder dem Sternchen zu beheben (ProfessorInnen, Professor*). Ebenso fragwürdig erscheinen ihm ­Euphemismen wie «Raumpflegerinnen» – diese sprachliche Beförderung hat noch keiner Putzfrau mehr Geld in die Tasche gespült. 

Auch ist der Sprachkritiker nach wie vor davon überzeugt, dass das «generische Maskulinum» in Pluralformen (die Wähler) verwendet werden kann, ohne damit die Wählerinnen auszuschliessen oder abzuwerten. (Immerhin ist der Plural-Artikel immer weiblich, auch für Männer.) Andererseits kann es nicht schaden, sich unbewusst verwendeter männlicher Formen («der Leser», wenn ganz allgemein das Lesepublikum gemeint ist) bewusst zu werden und sie zu vermeiden. Deshalb ist «der Sprachkritiker» keine ideale Formulierung; zur Entschuldigung kann vorgebracht werden, dass hier der Autor des Textes gemeint ist: ein Mann. Und der beobachtet und kritisiert natürlich auch den eigenen Sprachgebrauch.

Martin Ebel
(Tages-Anzeiger)
Erstellt: 05.05.2017, 00:26 Uhr

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