Wider den «Deppen-Apostroph»
Die Schweiz ist ein freies Land. Jeder kann hier
sagen, was er will; er kann den Chef beleidigen oder einen rassistischen Spruch
ablassen: Er muss nur mit den Folgen fertig werden; Entlassung, soziale
Ächtung. Jeder kann das, was er zu sagen hat, auch ausdrücken, wie er will.
Aber auch das hat Konsequenzen: Wer grammatisch falsche Sätze bildet, markiert
sich als Ausländer (oder als einer, der mit der Sprache spielt. Oder als der
Dichter Ernst Jandl). Wer sich geschraubt oder wolkig äussert, erntet
Unverständnis oder Desinteresse, kommt jedenfalls mit seinem Anliegen nicht
weit. Es ist eben nicht egal, was man sagt – und schon gar nicht, wie man es
sagt.
Denn Sprache ist immer auf ein Gegenüber bezogen,
auf einen Zuhörer oder Leser. Wer spricht oder schreibt, der will etwas: etwas
mitteilen, erzählen, von etwas überzeugen, jemanden zu etwas bewegen. Sprache
ist also Handlung, weshalb die Sprachwissenschaft auch vom «Sprechakt» spricht.
Und diese Handlung hat eine Form. Um diese Form geht es der Sprachkritik.
Sprachkritik, Sprachpflege – das klingt vorgestrig
und verstaubt, nach einer Beschäftigung für Spezialisten, Pedanten, Beckmesser.
Sind wir nicht freie Menschen und reden, wie uns der Schnabel gewachsen ist?
Verändert sich nicht die Sprache, strotzen nicht unsere SMS von Abkürzungen,
Dialektwörtern und Privatwendungen, bei denen sich dem Duden die Haare
sträubten, wenn er welche hätte?
Die Gämse: Sprache als Streitfall
Irrtum: Wenn wir «LOL» oder «Schnügel bisch de Bescht»
schreiben, wenn wir dem Kollegen ein saloppes «Hoi» hinwerfen, dem Chef oder
Kunden aber ein «Grüezi, Herr Direkter», zeigen wir Sprachbewusstsein, ohne
dass es uns bewusst ist. Erweisen wir uns als Kenner und Anwender von Regeln,
Registern, Stilebenen, aber auch der kreativen Möglichkeiten, die Sprache
bietet.
Das geschieht meistens unwillkürlich. Aber immer
wieder kommt Sprache auch zum Bewusstsein, wird gar zum Streitfall. So hat etwa
die Rechtschreibreform über Jahre Emotionen geweckt, die in keinem Verhältnis
zur Sache, also den vergleichsweise geringen Veränderungen standen; aber ob man
ein gewisses Alpentier mit e oder ä schreibt, rührte offenbar bei vielen an
Existenzielles. Das sprachliche «Gender mainstreaming» wiederum, das es bis zu
einem über 100-seitigen Behördenleitfaden gebracht hat, zeigt, dass manche dem
richtigen Sprachgebrauch eine gesellschaftsverändernde Kraft zutrauen: über die
geschlechtergerechte Sprache zur geschlechtergerechten Welt.
Auch wer da skeptisch bleibt: Niemand wird bezweifeln,
dass wir mit unserem Deutsch über ein grossartiges Instrument verfügen, das vom
Ein-Wort-Fluch bis zu Kants «Kritiken» und dem «Zauberberg» alles ausdrücken
kann, was ein menschliches Gehirn zu erdenken vermag. Ein so komplexes
Instrument, dass auch die beste Software ihr (noch) nicht gewachsen ist – wie
die kläglichen Versuche zeigen, anspruchsvolle Texte maschinell zu übersetzen.
Kein lebender Sprecher kann von sich behaupten,
dieses Instrument perfekt zu beherrschen. Die Sprache ist voller Fallstricke,
voller Zweifels- und Ermessensfragen. Auch Zeitungsredaktoren, für die das
richtige Deutsch quasi die Berufskleidung darstellt, greifen immer wieder zum
Duden (und haben das, dies nebenbei, vor der Rechtschreibreform nicht weniger
getan). Auch grosse Schriftsteller, davon erzählen Lektoren hinter
vorgehaltener Hand, schreiben durchaus kein fehlerloses Deutsch.
Den unterschwelligen Botschaften
auf der Spur
Aber Sprachkritik geht ja über die Frage «richtig»
oder «falsch», über Orthografie und Grammatik weit hinaus. Dass das Partizip
Perfekt von «winken» korrekt «gewinkt» heisst und nicht «gewunken»; dass
«gedenken» den Genitiv verlangt (wir haben seiner gedacht, nicht ihm): Darüber
muss man nicht lange diskutieren.
Diskutabel und spannend für den Sprachbewussten sind
eher Entwicklungen und Phänomene grundsätzlicher Art. Das Eindringen englischer
Ausdrücke in den deutschen Sprachkörper etwa. Wobei die benutzten
Formulierungen «Eindringen» und «Sprachkörper» bereits unterschwellige
Wertungen mit sich tragen: als sei die deutsche Sprache ein Körper, der von
Anglizismen heimgesucht, ja vergewaltigt wird. Mit diesen Formulierungen wollte
ich zeigen, wie schnell Sprachbilder Ideologie transportieren. Solche
unterschwelligen Botschaften zu erkennen und zu demaskieren: Auch das ist
Aufgabe der Sprachkritik.
Aber wie halten wir es nun mit dem Englischen? Kein
Fremdwort, auch kein englischer Ausdruck, ist per se (das ist wiederum ein
Latinismus), also an sich schlecht. Viele sind unumgänglich, weil es kein entsprechendes
deutsches Wort gibt oder eine Verdeutschung umständlich bis lächerlich wäre.
Oder weil sich der englische Terminus in breiten Kreisen durchgesetzt hat:
«Hardware» wäre so ein Fall. Andere sind verzichtbar, werden aber benutzt, weil
der Sprecher als smarter Zeitgenosse dastehen will, der sich in unserer
anglisierten Welt auskennt: «performance» zum Beispiel. Häufen sich die
Anglizismen, wird die Äusserung zum hippen Kauderwelsch. Die Beispiele kennen
Sie alle.
Wer Anglizismen generell ablehnt, schreibt sich aus
der Sprachgemeinschaft seiner Gegenwart hinaus. Eine moderne Sprachkritik
erkennt die gesellschaftlichen Grundlagen des sprachlichen Phänomens und fragt
im Einzelfall, ob der englische Begriff sinnvoll, reizvoll, unumgänglich,
überflüssig oder ärgerlich ist.
Der Deppen-Apostroph
Sprachkritik wertet also. Das unterscheidet sie von
der Sprachwissenschaft, die lediglich beobachtet. «Fehler und Fehlentwicklungen
gibt es in der Sprache nicht», schreibt der Sprachwissenschaftler Peter von
Polenz. Am sogenannten Deppen-Apostroph («Otto’s Café») würde einen Linguisten
nur interessieren, wo und wie oft er auftaucht. Der Sprachkritiker dagegen wird
nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das Genitiv-s im Deutschen, anders als im
Englischen, keinen Apostroph bekommt, also richtig: «Ottos Café». (Während des
Ersten Weltkrieges nahmen Cafébesitzer in Wien den Accent aigu vom e, um nicht
als Franzosenfreunde zu gelten.) Der Deppen-Apostroph ist ein Fall der
gedankenlosen Übernahme aus dem Englischen, mit fatalen Folgen, etwa der
Absurdität, ihn auch vor das Plural-s zu setzen: «Pizza’s zum halben Preis».
Sprache entwickelt sich: Mit dem Satz versuchen
liberale Geister (oder bloss schlampige Sprecher) jedes neue Phänomen zu
rechtfertigen. Der Sprachkritiker wendet sich gegen diesen Egalismus und fragt,
ob die Entwicklung, das Aufkommen neuer Ausdrücke, der Sprache guttut oder
nicht. Er fragt, ob es sich bloss um eine Mode handelt – wie «mega» als
verstärkendes Adverb oder «Alter» als Passepartout-Anrede –, die irgendwann von
einer anderen abgelöst wird, oder um eine Eintagsfliege aus der Werbung, die
bewusst gegen Regeln verstösst («Hier werden Sie geholfen»). Derartiges ist
höchstens kurios.
Anders, wenn sich Unschönes verbreitet und
verfestigt – zum Schlechteren. «Weil» plus Hauptsatz wäre so ein Fall: «Ich
konnte gestern nicht kommen, weil ich war krank.» Der Sprecher dieses Satzes
wird zwar verstanden, aber er markiert sich dadurch auch: als Ignorant oder als
Sprachschlamper. «Weil» verlangt die Nebensatzstellung («weil ich krank war»),
wer unbedingt einen Hauptsatz anschliessen will, kann auf die Konjunktion
«denn» zurückgreifen.
Wenn sich solche Schlamperei verbreitet, gar
durchsetzt (und irgendwann im Duden toleriert wird), dann ist das kein
Weltuntergang. Aber es beschädigt das komplizierte Regelwerk der Sprache, es
klingt für ein sensibles Ohr wie ein Nagel, der eine Glasfläche zerkratzt, und
es zeugt von schwindendem Sprachbewusstsein.
Sprachbewusstsein zu stärken: Das ist das
eigentliche Anliegen der Sprachkritik. Deshalb soll sie auch nicht diktatorisch
oder kathederstreng auftreten. Die Sprache ist kein Gesetzbuch mit Ordnungs-
oder Haftstrafen, die bei Übertretungen verhängt werden. Sie ist aber auch kein
Tummelplatz der Beliebigkeit. Der Sprachkritiker erinnert daran, welche Regeln
absolut gelten – das bezieht sich auf Sprache als System, auf «langue» –, und
was am konkreten Sprachgebrauch – der «parole», wie es die Linguisten nennen –
jeweils zu beanstanden ist. Sprachkritik will nicht dekretieren, sondern
überzeugen: dass der klare Ausdruck dem obskuren vorzuziehen ist, das
Geradlinige dem Verschwurbelten, das Elegante dem Umständlichen, die
Originalität dem ausgetretenen Pfad, die persönliche Prägung der Banalität des
Gemeinplatzes.
Politische Sprachlenkung
Nun ist der Sprachkritiker ein Subjekt, keine
Behörde, weder gewählt noch ernannt; sein Vorgehen ist oft subjektiv. Er muss
auf die Überzeugungskraft seiner Darlegungen setzen. Aber er hat Kriterien, und
er hat Gewissheiten. Eine davon ist die, dass man über «parole» streiten, die
«langue» aber nicht antasten darf (Ausnahmen, wie zu künstlerischen Zwecken,
bestätigen die Regel). Eine andere, dass eine politisch motivierte
Sprachlenkung weder der Sprache noch der Politik dient. Dies zielt – und wird sicher
heftigen Widerspruch erregen – auf all die Versuche, die Benachteiligung der
Frauen in der Gesellschaft durch die Einführung von Kunstformen wie dem
Binnen-I oder dem Sternchen zu beheben (ProfessorInnen, Professor*). Ebenso
fragwürdig erscheinen ihm Euphemismen wie «Raumpflegerinnen» – diese
sprachliche Beförderung hat noch keiner Putzfrau mehr Geld in die Tasche
gespült.
Auch ist der Sprachkritiker nach wie vor davon
überzeugt, dass das «generische Maskulinum» in Pluralformen (die Wähler) verwendet
werden kann, ohne damit die Wählerinnen auszuschliessen oder abzuwerten.
(Immerhin ist der Plural-Artikel immer weiblich, auch für Männer.) Andererseits
kann es nicht schaden, sich unbewusst verwendeter männlicher Formen («der
Leser», wenn ganz allgemein das Lesepublikum gemeint ist) bewusst zu werden und
sie zu vermeiden. Deshalb ist «der Sprachkritiker» keine ideale Formulierung;
zur Entschuldigung kann vorgebracht werden, dass hier der Autor des Textes
gemeint ist: ein Mann. Und der beobachtet und kritisiert natürlich auch den
eigenen Sprachgebrauch.
Martin Ebel
(Tages-Anzeiger)
Erstellt:
05.05.2017, 00:26 Uhr
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