Lehrplan 21 unter der Lupe II
Wer den
Umgang mit Leistungstests implementieren will, muss eine akzeptable Umsetzung
ausweisen und erfahrbar machen, wo die Vorteile liegen. Ausserdem muss mittels
klarer Aussagen die schulpolitische Absicht klargestellt werden, damit keine
Missverständnisse aufkommen, was mit den Leistungstests bezweckt wird und vor
allem, was nicht. Natürlich ist auch hier die Erfolgsbedingung, dass die
Nützlichkeitserwartungen zu erfüllen sind, ohne die Ressourcen der Schule über
Gebühr zu strapazieren.
Aber es
gibt noch eine andere Bedingung: Werden die institutionellen Bedingungen
vernachlässigt, versanden alle Appelle an die einzelnen Lehrkräfte.
Klassengrössen sowie die Anzahl der von einer Lehrkraft zu erteilenden
Unterrichtsstunden, aber auch der Korrekturaufwand sind harte Fakten, die jede weitergehende
Form von institutioneller Förderung zunächst einmal begrenzen. Die gegebenen
Umstände erlauben nicht mehr, wenn die Rahmenbedingungen gleichbleiben. Wenn
nicht mehr geschieht, als an die Lehrkräfte zu appellieren, finden die guten
Absichten des Förderns schnell ihre Grenze dort, wo die täglichen Belastungen
eine Mehrarbeit ausschliessen. An sich lohnende Vorhaben, die jedoch
zusätzliche Anstrengungen erfordern, werden dann nicht realisiert, zumal sich
die Arbeitszeit nicht beliebig ausweiten lässt. Gibt es keine Ressourcen,
erscheint jede Förderkultur als nebensächlich oder nicht praktikabel.
Lehrpersonen verstehen den Unterricht als ihr Kerngeschäft, er hat Vorrang und
was im Blick darauf keinen Platz findet, findet allenfalls Beachtung, wird aber
nicht bearbeitet.
Die
tatsächlichen Handlungsfelder für die Implementierung von Bildungsstandards
sind somit begrenzt. Eine Reform der Mittelschullehrerausbildung in Richtung
Standards würde Jahre dauern und hat keine wirklichen Erfolgsaussichten. Und
selbst wenn die Standards der Lehrerbildung sich verbessern liessen, indem die
Universitäten auf die Forderung nach mehr Praxisbezug reagierten, wären allein
die Standards der Lehrerbildung verbessert. Die Bildungsstandards der einzelnen
Schulen sowie der Unterrichtsfächer sind davon noch gar nicht berührt.
Realistischerweise erweisen sich so die Bemühungen, Kompetenzmodelle und
Bildungsstandards zu realisieren, als doch eher illusorisch, solange es nicht
gelingt, die Akteure davon zu überzeugen, dass sich nach einer Weile ein für
sie ersichtlicher Erfolg einstellt. Reformen lassen sich eben nicht einfach
administrieren, solange sich das komplexe Spannungsfeld zwischen Schulpraxis,
Fachdidaktik und Testtheorie nicht auflöst. Schliesslich sei noch auf einem weiteren
unschönen Sachverhalt verwiesen, der die Reduktion des Bildungskonzepts auf
Ausbildungsziele unter dem Gesichtspunkt ihrer Messbarkeit zur Folge hat.
Standards trainieren und mit vordefinierten Prüfungen testen, kann jeder. Das
führt naturgemäss zu einer Entprofessionalisierung des Lehrerberufs und diese
zu sinkende Bildungsqualität. Standards im heute geltenden Sinn des Wortes sind
im Gegensatz zu traditionellen Lernzielen Output orientiert. Sie legen fest,
was die Lernenden am Schluss ihrer Schulzeit können sollen. Zudem werden sie
zentral festgelegt und für möglichst viele Schulen für verbindlich erklärt. Sie
sind also 'top down' orientiert. Ausserdem werden sie nicht mehr von
Lehrkräften formuliert, sondern von Beamten der Bildungsbürokratie. Im
Unterschied zu Lernzielen sind Standards von der Art ihrer Messung her
definiert. Bildungsziele, die primär keinen Ausbildungscharakter aufweisen,
sind, wenn überhaupt, nur sehr schwer messbar. Ästhetisches Bewusstsein,
Kommunikationsfähigkeit oder soziale Aufmerksamkeit lassen sich so wenig über
Kompetenzmodelle erfassen wie Empathie gegenüber fremden Menschen und Kulturen.
Möglich, dass in diesem Zusammenhang sogar gilt, je pädagogisch sinnvoller,
desto schwieriger messbar, je einfacher messbar, desto pädagogisch sinnloser.
Pointiert formuliert wird diese Vermutung im berühmten, oft zitierten
Ausspruch: «Bildung ist das, was übrigbleibt, wenn man alles Gelernte wieder
vergessen hat.»
Christoph
Frei
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