Montag, 6. März 2017


Wie Wittgenstein Popper mit dem Feuerhaken drohte






In Karl Poppers Autobiografie "Ausgangspunkte" schildert er sein erstes und einziges Zusammentreffen mit Ludwig Wittgenstein so: 

"Ich sagte weiter, dass, falls es keine echten philosophischen Probleme gibt, ich sicher kein Philosoph sein möchte und dass meiner Meinung nach die einzige Rechtfertigung dafür, ein Philosoph zu sein, darin besteht, dass viele oder vielleicht sogar alle Menschen unhaltbare Lösungen für viele oder vielleicht sogar alle philosophischen Probleme gedankenlos akzeptieren.

Wittgenstein sprang wieder auf, unterbrach mich und sprach lange über Puzzles und über die Nichtexistenz philosophischer Probleme. In einem Augenblick, der mir geeignet erschien, unterbrach ich ihn und las eine von mir vorbereitete Liste philosophischer Probleme vor, wie etwa: Erkennen wir die Dinge durch unsere Sinne? Erlangen wir unsere Erkenntnis durch Induktion?

Wittgenstein tat diese Probleme ab mit der Bemerkung, es seien mehr logische als philosophische Probleme. Daraufhin verwies ich auf das Problem, ob es nur potentielle oder vielleicht auch aktuale Unendlichkeiten gibt, ein Problem, das er als ein mathematisches Problem abtat. Daraufhin nannte ich moralische Probleme und das Problem der Gültigkeit moralischer Regeln.

An diesem Punkt sagte Wittgenstein, der beim Feuer sass und nervös mit dem Schürhaken gespielt hatte, den er gelegentlich wie einen Dirigentenstab benutzte, um seine Behauptungen zu unterstreichen: »Geben Sie ein Beispiel für eine moralische Regel! « Ich erwiderte: »Man soll einen Gastredner nicht mit einem Schürhaken bedrohen. « Darauf warf Wittgenstein ärgerlich den Schürhaken hin, stürmte aus dem Raum und schlug die Türe hinter sich zu."

Dieses Zusammentreffen ist insofern legendär geworden, als bei diesem Treffen der beiden Philosophen in einem Zimmer in Cambridge eine Vielzahl anderer Philosophieprofessoren und -studenten, die später zu einem großen Teil selbst Professoren geworden sind, anwesend war und viele dieser Zuhörer später eigene und von Poppers Darstellung abweichende Berichte geliefert haben. Einige haben Popper wegen seiner Darstellung gar der Lüge bezichtigt. Die beiden Autoren Edmonds und Eidinow haben über ihre Nachforschungen ein Buch geschrieben, in dem sie die Lebensläufe von Wittgenstein und Popper und einigen weiteren Anwesenden verfolgen.
Denn auch das macht die Geschichte so interessant: Beide Protagonisten sind in Wien geboren, Ende des 19. Jahrhunderts. Beide haben in der Nazizeit als Juden in Österreich grosse Schwierigkeiten gehabt. Formal hatte Wittgenstein den leichteren Start ins Leben, entstammt er doch dem Grossbürgertum und war Angehöriger einer der reichsten Familien Österreichs, während Poppers Eltern Angehörige der Mittelschicht waren. Allerdings gab es in Poppers Elternhaus 10'000 Bücher, und sein Vater, übersetzte in seiner Freizeit leidenschaftlich gern klassische Werke ins Deutsche. Bei ihrem einzigen Treffen war Wittgenstein bereits der Guru / Gott der Philosophie in Cambridge, während Popper aus Neuseeland anreiste und sich seinen Platz in der Wissenschaft erst   erkämpfen musste.

Bemerkenswert auch die Fortsetzung beider Leben: Wittgenstein kannte bis zu seinem frühen Tod 1951 außerhalb der Philosophie kaum jemand, aber er hat zwei philosophische „Schulen“ begründet, von denen sich die eine auf sein Frühwerk, den Tractatus Logico-Philosophicus, stützt, während die zweite mehr auf seinen späteren Werken beruht, die alle erst posthum veröffentlicht worden sind. Popper hingegen ist uralt geworden und wurde bereits zu Lebzeiten hoch geehrt. Er war ein Pragmatiker mit einem grossen Einfluss auf die zeitgenössische Wissenschaft und Politik. Aber die Struktur seiner philosophischen Ansichten lässt die Gründung einer Schule nicht zu, so dass man sich in einer fernen Zukunft vermutlich eher an Wittgenstein als an Popper erinnern wird.

Um einen Eindruck zu bekommen, welche philosophischen Probleme neben den Biografien und rund um den Streit diskutiert werden und auf welchem Niveau das passiert, hier zwei Zitate zu einem interessanten Problem: Im 18. Jahrhundert hatte der schottische Philosoph David Hume zum ersten Mal von dem Rätsel der Induktion gesprochen. Hume stellte die Frage, ob es einen vernünftigen Grund für die Annahme gebe, dass die Sonne morgen wieder aufgehe, nur weil sie dies bis jetzt jeden Tag getan habe. Nach Humes Ansicht verhielt sich dies nicht so. Der Rückgriff beispielsweise auf die Naturgesetze würde lediglich zu einem Zirkelschluss führen. Wir glauben lediglich deshalb an die Naturgesetze, weil sie sich in der Vergangenheit als verlässlich erwiesen haben. Warum sollten wir davon ausgehen, dass Verlässlichkeit in der Vergangenheit eine Richtschnur für die Zukunft sein kann?

Bertrand Russell, der ein Gespür für fesselnde Vergleiche hat, formuliert das Rätsel so: »Der Mann, der das Huhn tagtäglich gefüttert hat, dreht ihm zu guter Letzt das Genick um und beweist damit, dass es für das Huhn nützlicher gewesen wäre, wenn es sich etwas subtilere Meinungen über die Gleichförmigkeit der Natur gebildet hätte. «

70 Seiten später wird zu diesem Problem zurückgekehrt, weil es essenziell für den Falsifikationismus Poppers, d.h. für seine Wissenschaftstheorie, ist:

Aber der gewichtigste Einwand gegen sein Werk lautet, dass er trotz seines Anspruchs daran gescheitert sei, Humes Problem der Induktion zu lösen. So beharren seine Kritiker darauf, Poppers Theorie könne keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage geben, warum es – um Lakatos‘ Beispiel zu zitieren – nicht ratsam ist, vom Eiffelturm zu springen. Denn einerseits ist die Theorie, dass man durch die Erdanziehung in die Tiefe gerissen wird und am Boden aufschlägt, durch unzählige Unfälle und Selbstmorde geprüft. Aber andererseits kann man hieraus, wie Popper selbst hervorhob, nicht logisch ableiten, dass dies auch beim nächsten Sprung zwingend geschehen wird. Man hat also nur dann Grund, nicht zu springen, wenn man der Überzeugung ist, die Vergangenheit sei wenigstens teilweise eine Leitschnur für die Zukunft.

Aber auch Wittgensteins Sprachanalyse („der frühe Wittgenstein“) kann dieses Problem der Induktion nicht lösen, der späte Wittgenstein vermutlich auch nicht. Philosophie ist nicht nur Sprache, und wenn Theorie und Praxis nicht übereinstimmen, hat immer die Praxis den Primat. Wir können mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass auch morgen die Sonne aufgehen wird, und wir springen (bei klarem Verstand) nicht vom Eifelturm. Andererseits können wir Bedingungen angeben, unter denen die Sonne nicht aufgehen wird, und es gibt manchmal auch Gründe, lieber von einem hohen Gebäude zu springen und zu hoffen, als oben stehen zu bleiben. Die Wissenschaftstheorie von Thomas S. Kuhn  ist da weniger formalistisch. Und bei dem im Zitat erwähnten Lakatos kann es sich nur um Imre Laktos handeln, der den naiven Falsifikationismus Poppers kritisiert hat.

Wie verhält es sich nun mit Poppers Schilderung seines Zusammentreffens mit Wittgenstein? Endgültige Klärung kann das Buch auch nicht bieten, weil man ja nicht weiss, welcher Darstellung man mehr trauen kann. Der wahrscheinlichste Hergang ist aber, dass Wittgenstein während der Diskussion mit dem Feuerhaken gefuchtelt hat (das machte er häufiger) und dass er das Zimmer bereits verlassen hatte, bevor die Frage nach einem „echten philosophischen Problem“ gestellt wurde (auch dieses vorzeitige Verlassen war für ihn charakteristisch). Er konnte deshalb den Feuerhaken gar nicht mehr wütend hinwerfen, nachdem Popper die Frage beantwortet hat. Wittgenstein selbst erwähnt den Vorgang in seinem Tagebuch am nächsten Tag gar nicht. Völlig offen bleibt dann aber die Antwort auf die Frage, ob Popper bewusst gelogen oder sich nur falsch an den Vorgang erinnert hat. Erstens war Popper auch ein charakterlich schwieriger Mensch, zweitens war er sicherlich während dieses Treffens in Cambridge auf das Äusserste erregt und kannte zudem kaum einen der Anwesenden – abgesehen von Bertrand Russel, dem dritten berühmten Philosophen im Raum.

Der Schwerpunkt der Philosophie hat sich in den vergangenen 50 Jahren erneut verschoben. Solche Fragen wie die nach der Induktion haben lediglich gezeigt, wie begrenzt die Mittel von Sprache und Logik sind. Wichtiger aber sind Fragen der Ontologie und der Metaphysik, um also der (Natur)Wissenschaft einen Rahmen zu geben (Was kann ich wissen?) und der Theologie eine rationale Alternative gegenüber zu stellen, und vor allem ethische und praktische Fragen (Wie soll ich leben?).



Andreas Brandhorst

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