Wie
Wittgenstein Popper mit dem Feuerhaken drohte
In Karl
Poppers Autobiografie "Ausgangspunkte" schildert er sein
erstes und einziges Zusammentreffen mit Ludwig Wittgenstein so:
"Ich
sagte weiter, dass, falls es keine echten philosophischen Probleme gibt, ich
sicher kein Philosoph sein möchte und dass meiner Meinung nach die einzige
Rechtfertigung dafür, ein Philosoph zu sein, darin besteht, dass viele oder
vielleicht sogar alle Menschen unhaltbare Lösungen für viele oder vielleicht
sogar alle philosophischen Probleme gedankenlos akzeptieren.
Wittgenstein
sprang wieder auf, unterbrach mich und sprach lange über Puzzles und über die
Nichtexistenz philosophischer Probleme. In einem Augenblick, der mir geeignet
erschien, unterbrach ich ihn und las eine von mir vorbereitete Liste
philosophischer Probleme vor, wie etwa: Erkennen wir die Dinge durch unsere
Sinne? Erlangen wir unsere Erkenntnis durch Induktion?
Wittgenstein
tat diese Probleme ab mit der Bemerkung, es seien mehr logische als
philosophische Probleme. Daraufhin verwies ich auf das Problem, ob es nur
potentielle oder vielleicht auch aktuale Unendlichkeiten gibt, ein Problem, das
er als ein mathematisches Problem abtat. Daraufhin nannte ich moralische
Probleme und das Problem der Gültigkeit moralischer Regeln.
An
diesem Punkt sagte Wittgenstein, der beim Feuer sass und nervös mit dem
Schürhaken gespielt hatte, den er gelegentlich wie einen Dirigentenstab
benutzte, um seine Behauptungen zu unterstreichen: »Geben Sie ein Beispiel für
eine moralische Regel! « Ich erwiderte: »Man soll einen Gastredner nicht mit
einem Schürhaken bedrohen. « Darauf warf Wittgenstein ärgerlich den Schürhaken
hin, stürmte aus dem Raum und schlug die Türe hinter sich zu."
Dieses
Zusammentreffen ist insofern legendär geworden, als bei diesem Treffen der
beiden Philosophen in einem Zimmer in Cambridge eine Vielzahl anderer
Philosophieprofessoren und -studenten, die später zu einem großen Teil selbst
Professoren geworden sind, anwesend war und viele dieser Zuhörer später eigene
und von Poppers Darstellung abweichende Berichte geliefert haben. Einige haben
Popper wegen seiner Darstellung gar der Lüge bezichtigt. Die beiden Autoren
Edmonds und Eidinow haben über ihre Nachforschungen ein Buch geschrieben, in
dem sie die Lebensläufe von Wittgenstein und Popper und einigen weiteren
Anwesenden verfolgen.
Denn
auch das macht die Geschichte so interessant: Beide Protagonisten sind in Wien
geboren, Ende des 19. Jahrhunderts. Beide haben in der Nazizeit als Juden in
Österreich grosse Schwierigkeiten gehabt. Formal hatte Wittgenstein den
leichteren Start ins Leben, entstammt er doch dem Grossbürgertum und war
Angehöriger einer der reichsten Familien Österreichs, während Poppers Eltern
Angehörige der Mittelschicht waren. Allerdings gab es in Poppers Elternhaus
10'000 Bücher, und sein Vater, übersetzte in seiner Freizeit leidenschaftlich
gern klassische Werke ins Deutsche. Bei ihrem einzigen Treffen war Wittgenstein
bereits der Guru / Gott der Philosophie in Cambridge, während Popper aus
Neuseeland anreiste und sich seinen Platz in der Wissenschaft erst
erkämpfen musste.
Bemerkenswert
auch die Fortsetzung beider Leben: Wittgenstein kannte bis zu seinem frühen Tod
1951 außerhalb der Philosophie kaum jemand, aber er hat zwei philosophische
„Schulen“ begründet, von denen sich die eine auf sein Frühwerk, den Tractatus
Logico-Philosophicus, stützt, während die zweite mehr auf seinen späteren
Werken beruht, die alle erst posthum veröffentlicht worden sind. Popper
hingegen ist uralt geworden und wurde bereits zu Lebzeiten hoch geehrt. Er war
ein Pragmatiker mit einem grossen Einfluss auf die zeitgenössische Wissenschaft
und Politik. Aber die Struktur seiner philosophischen Ansichten lässt die
Gründung einer Schule nicht zu, so dass man sich in einer fernen Zukunft
vermutlich eher an Wittgenstein als an Popper erinnern wird.
Um einen
Eindruck zu bekommen, welche philosophischen Probleme neben den Biografien und
rund um den Streit diskutiert werden und auf welchem Niveau das passiert, hier
zwei Zitate zu einem interessanten Problem: Im 18. Jahrhundert hatte der
schottische Philosoph David Hume zum ersten Mal von dem Rätsel der Induktion
gesprochen. Hume stellte die Frage, ob es einen vernünftigen Grund für die
Annahme gebe, dass die Sonne morgen wieder aufgehe, nur weil sie dies bis jetzt
jeden Tag getan habe. Nach Humes Ansicht verhielt sich dies nicht so. Der
Rückgriff beispielsweise auf die Naturgesetze würde lediglich zu einem
Zirkelschluss führen. Wir glauben lediglich deshalb an die Naturgesetze, weil
sie sich in der Vergangenheit als verlässlich erwiesen haben. Warum sollten wir
davon ausgehen, dass Verlässlichkeit in der Vergangenheit eine Richtschnur für
die Zukunft sein kann?
Bertrand
Russell, der ein Gespür für fesselnde Vergleiche hat, formuliert das Rätsel so:
»Der Mann, der das Huhn tagtäglich gefüttert hat, dreht ihm zu guter Letzt das
Genick um und beweist damit, dass es für das Huhn nützlicher gewesen wäre, wenn
es sich etwas subtilere Meinungen über die Gleichförmigkeit der Natur gebildet
hätte. «
70
Seiten später wird zu diesem Problem zurückgekehrt, weil es essenziell für den
Falsifikationismus Poppers, d.h. für seine Wissenschaftstheorie, ist:
Aber
der gewichtigste Einwand gegen sein Werk lautet, dass er trotz seines Anspruchs
daran gescheitert sei, Humes Problem der Induktion zu lösen. So beharren seine
Kritiker darauf, Poppers Theorie könne keine zufriedenstellende Antwort auf die
Frage geben, warum es – um Lakatos‘ Beispiel zu zitieren – nicht ratsam ist,
vom Eiffelturm zu springen. Denn einerseits ist die Theorie, dass man durch die
Erdanziehung in die Tiefe gerissen wird und am Boden aufschlägt, durch
unzählige Unfälle und Selbstmorde geprüft. Aber andererseits kann man hieraus,
wie Popper selbst hervorhob, nicht logisch ableiten, dass dies auch beim
nächsten Sprung zwingend geschehen wird. Man hat also nur dann Grund, nicht zu
springen, wenn man der Überzeugung ist, die Vergangenheit sei wenigstens
teilweise eine Leitschnur für die Zukunft.
Aber
auch Wittgensteins Sprachanalyse („der frühe Wittgenstein“) kann dieses Problem
der Induktion nicht lösen, der späte Wittgenstein vermutlich auch nicht.
Philosophie ist nicht nur Sprache, und wenn Theorie und Praxis nicht
übereinstimmen, hat immer die Praxis den Primat. Wir können mit hoher
Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass auch morgen die Sonne aufgehen wird,
und wir springen (bei klarem Verstand) nicht vom Eifelturm. Andererseits können
wir Bedingungen angeben, unter denen die Sonne nicht aufgehen wird, und es gibt
manchmal auch Gründe, lieber von einem hohen Gebäude zu springen und zu hoffen,
als oben stehen zu bleiben. Die Wissenschaftstheorie von Thomas S.
Kuhn ist da weniger formalistisch. Und bei dem im Zitat erwähnten
Lakatos kann es sich nur um Imre Laktos handeln, der den naiven
Falsifikationismus Poppers kritisiert hat.
Wie
verhält es sich nun mit Poppers Schilderung seines Zusammentreffens mit
Wittgenstein? Endgültige Klärung kann das Buch auch nicht bieten, weil man ja
nicht weiss, welcher Darstellung man mehr trauen kann. Der wahrscheinlichste
Hergang ist aber, dass Wittgenstein während der Diskussion mit dem Feuerhaken
gefuchtelt hat (das machte er häufiger) und dass er das Zimmer bereits
verlassen hatte, bevor die Frage nach einem „echten philosophischen Problem“
gestellt wurde (auch dieses vorzeitige Verlassen war für ihn charakteristisch).
Er konnte deshalb den Feuerhaken gar nicht mehr wütend hinwerfen, nachdem
Popper die Frage beantwortet hat. Wittgenstein selbst erwähnt den Vorgang in
seinem Tagebuch am nächsten Tag gar nicht. Völlig offen bleibt dann aber die
Antwort auf die Frage, ob Popper bewusst gelogen oder sich nur falsch an den
Vorgang erinnert hat. Erstens war Popper auch ein charakterlich schwieriger
Mensch, zweitens war er sicherlich während dieses Treffens in Cambridge auf das
Äusserste erregt und kannte zudem kaum einen der Anwesenden – abgesehen von
Bertrand Russel, dem dritten berühmten Philosophen im Raum.
Der
Schwerpunkt der Philosophie hat sich in den vergangenen 50 Jahren erneut
verschoben. Solche Fragen wie die nach der Induktion haben lediglich gezeigt,
wie begrenzt die Mittel von Sprache und Logik sind. Wichtiger aber sind Fragen
der Ontologie und der Metaphysik, um also der (Natur)Wissenschaft einen Rahmen zu
geben (Was kann ich wissen?) und der Theologie eine rationale Alternative
gegenüber zu stellen, und vor allem ethische und praktische Fragen (Wie soll
ich leben?).
Andreas Brandhorst
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