Grosse
Sehnsucht Schreiben
„Ein alter Fehler von mir
bestand darin“, sagte Andreas, „in Zeiten des Schreibkrampfes in Notiz- und
Arbeitsbüchern nach passenden Folgeformulierungen zu suchen, wodurch, wie du
dir denken kannst, der Sinn für das Ganze unweigerlich verloren gehen musste.
Mit verklebtem Gehirn sass ich dann am Tisch, verzweifelt über meine
Unzulänglichkeit, und wusste doch, dass ich mich frei schreiben sollte, um in
jenem Zustand einzupendeln, der es mir erlauben würde, ungestört einen
Gedankenfluss entstehen zu lassen. Früher erschien mir das Schreiben wie ein
Kampf, den ich gegen meine Sprachverwirrung auszufechten hatte. Jeder
Formulierungsversuch war eine Konfrontation mit meiner Sprachstörung, der, wie
ich glaubte, nur unter Einsatz aller mir zur Verfügung stehenden Mittel
beizukommen war, worunter selbstverständlich das spielerische Element litt, die
Lockerheit, welche nötig gewesen wäre in der Erprobung meiner sprachlichen
Möglichkeiten. Oft bin ich, verspannt und eingeschüchtert, bereits mit dem
ersten Satz, den ich am Morgen formulierte, in die Falle gegangen, wusste
nachher nicht weiter, so dass ich den ersten Satz, den ich geschrieben hatte,
immer von Neuem zu verbessern suchte, hielt aber gleichwohl mit jedem neuen
Anlauf an dem am Vortag gefassten Vorsatz fest, mir in der totalen Verausgabung
endlich den Weg zur grossen Form zu ebnen. Nie war es mir möglich, beim
Schreiben dieselbe Haltung wie sonst im Leben einzunehmen. Die Beschäftigung
mit Sprache verwandelte sich zu einem geistigen Sperrbezirk, zu einem Ausnahmeterritorium
der Erfolgslosigkeit, in dem es mir verwehrt war, etwas, das nur durch mich
möglich gewesen wäre, zu verwirklichen. Obwohl Schreiben als Tätigkeit zum
Allerschwierigsten wurde, ja vielleicht neben dem Sterben zum Schwierigsten,
Anstrengendsten überhaupt, wie ich mir damals vorstellte, war ich andererseits
auch davon überzeugt, dass die Schrift in gelungener Form für mich zum
Beglückendsten zählen würde, das ich erfahren konnte, weshalb ich mir auch an
keinem Tag die Möglichkeit verbauen wollte, den in mir schlummernden
Sprachquell aufzuspüren. Schreiben als grosse Sehnsucht.“
„Was es heisst, zur Sprache
zu kommen“, fuhr Andreas weiter, „erfuhr ich freilich erst, seit ich nach
meiner Rückkehr damit begonnen habe, jeden Tag am Morgen während einer halben
Stunde in den Wäldern über dem See zu laufen. Indem ich mich auf einen
Bewegungsablauf einlasse, wächst mir Sprache zu, kann ich doch, während ich
laufe, nicht überhören, wer ich bin. Anders als im Stimmengewirr der grossen
amerikanischen Städte, wo ich vielen unbekannten Einflüsterungen ausgesetzt
war, denen ich nachgehen musste, komme ich, indem ich immer dasselbe tue, an
einen Ruhepunkt, der es mir erlaubt, die mir eigene Stimme zu vernehmen.
Gleichzeitig wurde das Laufen zu einer alles bestimmenden Metapher für das
Schreiben. Da beides im Grunde etwas Vegetatives ist, muss man so schreiben,
wie man läuft. So wie man locker einen Fuss vor den andern setzt, muss man
selbst verloren, das heisst, ohne dass man es besonders gut machen will, Wort
an Wort reihen. Vor allem darf man beim Schreiben nicht grübeln, wie man ja
auch beim Laufen nicht unentwegt anhalten soll, um zu verschnaufen.“
„Damit ich beim Formulieren
den Faden nicht verliere, bemühe ich mich also, den Rhythmus des Laufens
schreibend umzusetzen, was zur Folge hat, dass ich in Zeiten geistiger
Kraftlosigkeit auch nicht länger das Schweigemeer beklage und darauf hoffe, die
grosse Form werde sich quasi von allein einstellen. Schliesslich kann ich im
schöpferischen Versagen das zu Schreibende nicht schon im Voraus klar
strukturiert und gegliedert erschauen. Ergo hat es auch keinen Sinn, unentwegt
die Arbeitsunterlagen zu konsultieren, um nach treffenden Folgeformulierungen
zu suchen oder, wie unter einem Zwang stehend, unentwegt am gleichen Satz
herumzufeilen, was im Falle meiner sportlichen Betätigung ja darauf
hinauslaufen würde, ohne Unterlass einen Schritt vorwärts und einen rückwärts
zu machen, wodurch sich selbstredend weder Trägheitsmoment noch Arhythmus
überwinden liessen. – Idealerweise muss man es schreiben lassen, muss, indem
man einen Sachverhalt, gleichviel, wie komplex er ist, ruhig und absichtslos in
Worte fasst, von den eigenen Formulierungen mitgenommen werden, muss sich
schreibend, ohne inne zu halten, in die einem gemässe Sprachmelodie
hineinhören, deren Harmonie einen trägt, um sich so von den eigenen Wörtern und
Sätzen treiben zu lassen, bis man endlich, selbstvergessen und in sich
versunken, von der Sprache geführt wird und den Text, ohne dass man weiss, wie
einem geschieht, zu Ende schreibt.“
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